Zweite Kantate - Ich singe dir mit Herz und Mund

„Ach, Oma!“, seufzt die junge Frau. Die ganze Familie sitzt gemeinsam am Frühstückstisch. Oma neben ihr hat gerade die gefürchtete Sonntagsfrage gestellt: „Wer kommt mit mir in die Kirche?“
Alle haben sie Ausreden. Vater muss zum Frühschoppen der Wählergemeinschaft. „Ist ja bald Kommunalwahl“, sagt er. Der Bruder ist schon längst auf dem Festland beim Fußball. Die Mutter hat den Braten, den sie vorbereiten muss.
Nur der jungen Frau fällt auf die Schnelle nichts ein. Sie ist zu Besuch auf ihrer Insel. Gestern hat der Vater seine Tochter vom Hafen abgeholt. Sie und den Schwiegerfreund, wie er ihn nennt, weil sie nach fünf Jahren noch nicht geheiratet haben.
Aber das wird sich jetzt wohl ändern. Einen Grund mehr gibt es jedenfalls: „Ich bin schwanger“, hat die junge Frau gestern verkündet. „Mein Kind!“, hat Oma ausgerufen und in die Hände geklatscht. Die Mutter hat sich die Tränen aus den Augen gewischt und vorsichtig geschneuzt. Der Vater hat dem Schwiegerfreund auf den Rücken gehauen und „Herzlichen Glückwunsch“ gerufen. Der Bruder hat sich schon auf den Ausflug mit dem Neffen zum HSV gefreut.
„Nu kommt mal mit! Wart ja lange nicht mehr da!“ Oma ist mit ihrer Sonntagsfrage hartnäckig. Die junge Frau schaut ihren Freund an. „Ich wollte doch den Schuppen reparieren“, sagt der. „Aber geh du doch ruhig mit Oma.“ Die junge Frau seufzt. „Na gut“, sagt sie, „ich komme mit.“ Oma lächelt. „Wie früher!“
Ja, wie früher, denkt die junge Frau. Als Konfirmandin musste sie jeden Sonntag mit ihrer Oma in den Gottesdienst. „Schließlich bin ich im Kirchenvorstand“, sagt die immer. „Da muss ich Vorbild sein.“ Warum sie, die Enkelin, deshalb mit musste in die Kirche, versteht sie bis heute nicht.
Auf dem Weg durch das Dorf hakt sich Oma bei ihrer Enkelin ein. „Da werde ich tatsächlich Uroma“, sagt sie. „Wenn das Opa noch erlebt hätte.“ „Ja, das wäre schön gewesen“, entgegnet die junge Frau. „Ihr könnt euer Kind ja nach ihm benennen: Broder ist ein schöner Name.“ „Ach, Oma,“ stöhnt die junge Frau. „Wir wissen noch nicht einmal, ob es ein Junge wird.“ Sie fragt sich, ob sie nicht doch lieber mit Mutter hätte in die Küche gehen sollen statt mit Oma in die Kirche.
Sie kommen zur Kirche, als die Glocken ausschwingen. „Was ein Glück!“, denkt die junge Frau, „so kann Oma nicht gleich allen erzählen, dass sie Uroma wird.“ Aber heimlich freut sie sich schon darauf, es nach dem Gottesdienst selber zu erzählen. Zum Beispiel ihrer alten Lehrerin, die wie eh und je in der dritten Reihe unter der Kanzel sitzt.
Auch sonst scheint sich nichts verändert zu haben. Sie fühlt sich sofort wieder wie die Konfirmandin von einst. Zwar fehlt die Freundin an ihrer Seite, mit der sie immer über die Jungs in der Reihe vor ihr wisperte und zu laut kicherte. Aber die Lieder sind dieselben. Ein bisschen altbacken alt und wie aus einer anderen Welt – der Welt, in die ihre Oma gehört.
Oma neben ihr ist jedenfalls ganz in ihrem Element. Aus vollem Herzen und mit schöner Stimme singt sie mit: „Ich singe dir mit Herz und Mund, Herr, meines Herzens Lust; ich sing' und mach' auf Erden kund, was mir von dir bewusst.“
Oma singt und schaut ihre Enkelin aufmunternd an. Das hat sie früher auch immer getan. Pflichtbewusst schaut die junge Frau ins Gesangbuch. Unsicher flüstert sie mit: „Ich weiß, dass du der Brunn der Gnad und ewge Quelle bist …“ Die Worte schlagen in ihr an, die Melodie bringt sie zum Schwingen. „Nanu“, denkt die junge Frau noch, dann hört sie sich singen: „… daraus uns allen früh und spat viel Heil und Gutes fließt.“
Oma hört die Stimme neben ihr. Mit einem Lächeln schaut sie die Enkelin an. „Ja, so eine Schwangerschaft verändert doch manches...“, denkt sie.
Die junge Frau schluckt. „Ich doofe Kuh“, denkt sie und wischt sich eine Träne von der Wange. Sie spürt die Freude, die in ihr aufsteigt wie eine Luftblase im Wasser. „Ich werde Mutter!“, jubelt es in ihr. Sie muss laut singen. „Was sind wir doch, was haben wir auf dieser ganzen Erd, das uns, o Vater, nicht von dir allein gegeben werd?“ Sie schaut ihre Oma und fasst nach ihrer Hand: „Ach, Uroma!“, denkt sie.

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