Frühlingsgefühle und Sonntagsgefühle

Es gibt ihn wirklich, den Frühling. Wir haben ihn gesehen und gespürt. Auf dem Festland, am Montag und am Dienstag. Die Sonne schien. Wir konnten die Jacken ausziehen. Es roch nach frischer, warmer Erde. Doch wirklich, so war das.
Ein wenig Frühling ist hier ja auch schon zu erahnen. Die Osterglocken im Pastoratsgarten blühen. Die Amsel singt morgens und abends. Aber so richtig zu spüren ist er noch nicht.
Umso mehr sehne ich mich am Ende dieses langen Winters nach dem Frühling. Jeden Tag schaue ich auf die kahle Blutbuche im Garten. Ich beobachte, wie die Knospen an der Kastanie größer werden. Ich sehe den Frühblühern zu, wie sie wachsen und aufgehen. Ich halte mein Gesicht der Sonne entgegen, damit sie es wärmt.
Sogar noch mehr warte ich auf die Gefühle, die zum Frühling gehören. Denn Frühling wird es ja erst, wenn ich auch Frühlingsgefühle habe. Also: Wenn es anfängt mich in den Fingern zu jucken und ich am liebsten im Garten buddeln will. Wenn es mich lockt, mich aufs Fahrrad zu schwingen und durch die Marsch zu fahren. Wenn ich einfach Lust habe, am Morgen aufzustehen. Wenn ich die ganze Welt umarmen möchte. Wenn ich voller Freude singen möchte. Über den Frühling. Über das Leben. Über alles.
Der Sonntag heute fasst die Frühlingsgefühle in ein einziges Wort: Jubilate! Heißt er. Jubilate Deo. Jubelt Gott zu, Menschen aller Länder!

Vielleicht ist dieses Frühlingsgefühl aus Jubel und Freude auch die richtige Stimmung für den Predigttext heute:

Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser. Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht. Und Gott sah, dass das Licht gut war. (Gen 1,1-4a)

So fängt der Predigttext an, so fängt die Bibel an. Ganz am Anfang, im ersten Buch Mose.
Ob die Welt auch so anfing? Wirklich und wahrhaftig? Wir könnten jetzt den Streit aufrollen, der immer noch herrscht. Der Streit zwischen naturwissenschaftlicher Erkenntnis und wortwörtlicher Bibelauslegung. Aber ich finde das einen überflüssigen Streit. Denn was die Naturwissenschaft will, das will die Bibel gar nicht. Die Naturwissenschaft will erklären, wie etwas geworden ist. Die Bibel dagegen will staunen, dass etwas geworden ist. Ganz objektiv und rational wägt die Naturwissenschaft Argumente ab und verifiziert sie. Ganz einseitig und vollen Herzens staunt die Bibel und lobt Gott.
Man kann versuchen, das eine gegen das andere auszuspielen. Das Erforschen gegen das Loben. Das Prüfen gegen das Staunen. Aber wer das eine tut, muss das andere nicht lassen. Wer erforscht, kann auch loben. Und wer prüft, darf auch staunen.
Ich finde das immer wieder zum Staunen: Dass etwas ist, wo doch auch nichts sein könnte. Dass Licht ist, wo es doch auch dunkel sein könnte.
Ich stelle mir vor, dass auch die Menschen staunten, die vor 2.500 Jahren aufschrieben, wie sie sich den Anfang der Welt vorstellten. Sie staunten, dass die Welt da ist. Sie staunten, dass Licht ist. Sie gingen ihrem Staunen nach. Sie wollten ihm auf den Grund gehen. Sie fragten nach dem, was vorher war. Vor dem Licht. Vor der Welt, wie sie sie kannten. Sie landeten in der unvorstellbaren Zeit, als es nichts gab. Keine Zeit, keine Welt, kein Licht. Als es nur das Nichts gab. Und doch sahen sie dort viel mehr als das Nichts: Sie sahen Gott und seinen Geist, der das Nichts ausfüllte und aus ihm etwas machte.
Ihr Staunen fand darin seine Antwort: Gott wollte und Gott will, dass es diese Welt gibt. Es gibt das Licht, weil Gott es gut fand und gut findet. Und das ist dann mehr als Grund genug, zu loben: Jubelt Gott zu, Menschen aller Länder!
Menschen aller Länder: Auch das ist Grund zum Staunen – dass es Menschen gibt. Dass es Sie gibt und den Menschen neben Ihnen und den Menschen am anderen Ende der Erde.
Darüber staunt auch die Bibel.
Noch einmal vom Anfang der Bibel, aus dem ersten Kapitel:

Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alle Tiere des Feldes und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht. Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau. (Gen 1,26-27)

Über etwas staunen kann ich, wenn ich etwas bewusst und genau wahrnehme. Das kann etwas sein, das ich das erste Mal sehe. Das kann genauso etwas sein, das ich schon lange kenne – auf das ich aber plötzlich anders schaue.
In diesem Sinne staunen die Menschen, die aufschrieben, wie sie sich Gottes Anfang mit der Welt und dem Menschen vorstellten. Sie staunen über den Menschen, der sie selber sind.
Zum einen ist der Mensch ein Herrscher über andere Lebewesen. Er ist fähig – die Bibel sagt: befähigt –, über die Tiere zu herrschen. Also: Sie für die eigenen Zwecke zu nutzen. Auf ihnen zu reiten. Sie zu melken. Ihre Wolle zu spinnen und zu stricken. Was eigentlich nicht meint, sie auszunutzen und zu missbrauchen. Was es aber – wie wir täglich sehen – leider auch nicht ausschließt.
Zum anderen lebt der Mensch mit anderen Menschen zusammen. Die Bibel sagt: Der Mensch ist als Mann und Frau geschaffen. Menschen gehören zusammen. Sie sind aufeinander angewiesen. Der eine kann nicht ohne den anderen. Die andere braucht die eine. Ohne einander fehlt ihnen etwas. Erst zu zweit ist ein Mensch ein ganzer.
Über beides kann ich staunen. Darüber, dass der Mensch Tiere halten kann. Dass er sie nutzen kann. Und darüber, dass Menschen einander brauchen. Dass sie füreinander geschaffen sind. Darüber kann ich vor allem staunen, wenn ich es besonders wahrnehme.
Die Bibel schult mir den Blick dafür. Sie tut es, indem sie sagt: Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn.
Ich sehe das so: Es spiegelt sich etwas von Gott im Menschen. Darin, dass er über die Tiere herrschen kann. Und darin, dass er den anderen Menschen braucht. In beidem zeigt sich etwas von Gott. Von Gott, der den Menschen schafft – weil er ein Gegenüber will. Und von Gott, der über die Tiere herrscht, indem er ihnen das Leben schenkt.
Wenn ich darüber staunen kann, dass ein Mensch so ein Bild ist, das Gott ähnelt – vielleicht kann ich dann auch eher so leben, dass ich diesem Bild entspreche. Indem ich Tiere leben lasse und dem Menschen neben mir ein Gegenüber bin.

Und dann – dann kann es vielleicht tatsächlich so heißen, wie es am Ende des Anfangs in der Bibel heißt:

Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.
So wurden vollendet Himmel und Erde mit ihrem ganzen Heer.
Und so vollendete Gott am siebenten Tage seine Werke, die er machte, und ruhte am siebenten Tage von allen seinen Werken, die er gemacht hatte. Und Gott segnete den siebenten Tag und heiligte ihn, weil er an ihm ruhte von allen seinen Werken, die Gott geschaffen und gemacht hatte.
So sind Himmel und Erde geworden, als sie geschaffen wurden.
Gen 1,31;2,1-4a)

Den siebenten Tag, den haben wir heute. Es ist Gottes Tag, den wir heute feiern. Ihm gehört er, darum ist er heilig.
Vielleicht ist es mit diesem Tag ein wenig wie mit dem Frühling: Zum Frühling gehören bestimmte äußere Anzeichen. Die Sonne wird wärmer. Vögel fangen an zu singen. Die Osterglocken blühen auf. Es wird grün.
Und zu ihm gehören die Frühlingsgefühle: Das Gefühl, dass ich auflebe und neue Kräfte finde. Dass ich die ganze Welt umarmen könnte. Dass ich voller Freude singen möchte.
Der Sonntag ähnelt darin dem Frühling. Er hat bestimmte äußere Anzeichen, an denen er zu erkennen ist. Auch wenn er heute weniger von den anderen Wochentagen zu unterscheiden ist als früher. Aber es ist doch so, dass der Wecker später klingelt oder gar nicht. Zum Frühstück gibt’s das Sonntagsei. Das ganze Leben rundherum ist ruhiger. Die Kirchenglocken läuten. Der Nachmittag lockt zum Spaziergang.
Und zum Sonntag gehören die Sonntagsgefühle: Das Gefühl, Zeit zu haben. Dass ich alles einmal loslassen kann. Dass ich nach einer kurzatmigen Woche tief durchatme. Dass ich frisch in die neue Woche gehe.
In den Sonntagsgefühlen wie aus den Frühlingsgefühlen kann etwas wachsen. Die Kraft, die ich für den Alltag brauche. Und die Freude, die mich singen lässt: Jubilate! Jubilate Deo. Jubelt Gott zu, Menschen aller Länder.
Das Schöne am Sonntag ist: Er kommt öfter und schneller als der Frühling. Alle sieben Tage. Und wer weiß: Vielleicht haben und spüren wir ja nächste Woche beides: Sonntag und Frühling. Beide gibt es wirklich.

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