Gegen das Falkengeschwader
Wenn der Falke unterwegs ist, bleibt die Taube besser im Gebüsch. So hat mir mal ein lebenskluger Mann gesagt, der Wirt einer mecklenburgischen Dorfgaststätte. Als er mir das sagte, habe ich gelächelt und nicht widersprochen.
Das Plakatmotiv zur Friedensdekade tut es. Es widerspricht. Auf rotem Grund sind schwarze Falken zu sehen. Ein Geschwader im Formationsflug. Eine einsame weiße Taube stellt sich gegen das Geschwader. Sie steht in der Luft und rüttelt mit den Flügeln. Als wolle sie das Falkengeschwader aufhalten - ohne Aussicht auf Erfolg, aber voller Hoffnung.
Befreit zum Widerstehen steht auf dem Plakat. So lautet das Motto der diesjährigen Ökumenischen Friedensdekade.
Befreit zum Widerstehen: Was das heißt, davon erzählt eine Geschichte aus dem zweiten Buch Mose:
Da kam ein neuer König auf in Ägypten, der wusste nichts von Josef und sprach zu seinem Volk:
Siehe, das Volk Israel ist mehr und stärker als wir. Wohlan, wir wollen sie mit List niederhalten, dass sie nicht noch mehr werden. Denn wenn ein Krieg ausbräche, könnten sie sich auch zu unsern Feinden schlagen und gegen uns kämpfen und aus dem Lande ausziehen.
Und man setzte Fronvögte über sie, die sie mit Zwangsarbeit bedrücken sollten. Aber je mehr sie das Volk bedrückten, desto stärker mehrte es sich und breitete sich aus. Und es kam sie ein Grauen an vor Israel.
Da zwangen die Ägypter die Israeliten unbarmherzig zum Dienst und machten ihnen ihr Leben sauer mit schwerer Arbeit in Ton und Ziegeln und mit mancherlei Frondienst auf dem Felde, mit all ihrer Arbeit, die sie ihnen auflegten ohne Erbarmen.
Der König von Ägypten sprach zu den hebräischen Hebammen, von denen die eine Schifra hieß und die andere Pua: Wenn ihr den hebräischen Frauen helft und bei der Geburt seht, dass es ein Sohn ist, so tötet ihn; ist's aber eine Tochter, so lasst sie leben.
Aber die Hebammen fürchteten Gott und taten nicht, wie der König von Ägypten ihnen gesagt hatte, sondern ließen die Kinder leben.
Da rief der König von Ägypten die Hebammen und sprach zu ihnen: Warum tut ihr das, dass ihr die Kinder leben lasst?
Die Hebammen antworteten dem Pharao: Die hebräischen Frauen sind nicht wie die ägyptischen, denn sie sind kräftige Frauen. Ehe die Hebamme zu ihnen kommt, haben sie geboren.
Darum tat Gott den Hebammen Gutes. Und das Volk mehrte sich und wurde sehr stark.
(2. Mose 1,8-20 www.die-bibel.de)
Befreit zum Widerstehen: Schifra und Pua sind es. Wie zwei weiße Tauben fliegen sie dem schwarzen Falkengeschwader des Pharaos entgegen.
Es ist ein wahnwitziger Befehl, den der Pharao erlässt: Wenn ein israelischer Junge geboren wird, soll er getötet werden. Der Wahnwitz hat Methode. Er entspringt der Angst des Pharaos. Der Angst davor, ein Fremder im eigenen Land zu werden, überfremdet von denen, die man ins Land ließ, als man sie brauchte.
Es ist die Angst vor den Fremden, die zwar hilfreich sind, als Gastarbeiter für die schweren Arbeiten, in manchen Fällen womöglich auch als Fachkräfte gebraucht werden. Aber sie bleiben doch Fremde, haben ihre eigenen Sitten, ihre eigene Sprache.
Der Wahnwitz braucht Methode. Er braucht Menschen, die mitmachen. Die sich zu Werkzeugen am langen Arm des Pharaos machen lassen. Die zu kleinen Rädern im gut geölten mörderischen Getriebe werden. Wer weiß, wie viele willige Helferinnen der Pharao findet unter den Hebammen seines Landes.
Schifra und Pua jedenfalls machen nicht mit. Sie sind Sand im Mordsgetriebe. Sie weigern sich, den Befehl des Pharao auszuführen. Sie bringen die jüdischen Kinder nicht um. Sie bringen sie ins Leben. Dem Pharao sagen sie: Uns sind die Hände gebunden. Die Kinder finden schneller ins Leben als wir es verhindern können.
Schifra und Pua: Zwei Tauben gegen das Falkengeschwader.
Wie die Soldaten, die im ersten Weltkrieg zwischen den Fronten Weihnachten feiern.
Deutsche und belgische und französische und englische Soldaten verlassen ihre Schützengräben und treffen sich zwischen den Fronten. Vaterländische Liebesgaben, die zur Hebung der Truppenmoral auf allen Seiten der Front verteilt wurden, wechseln bestimmungswidrig ihre Besitzer.
Souvenirjäger erbeuten Uniformknöpfe und Abzeichen. Einem britischen Soldaten gelingt es sogar, gegen ein umfangreiches Fressalienpaket eine deutsche Pickelhaube einzutauschen. Als der deutsche Soldat kurz darauf bei einer angekündigten Inspektion seinen Helm vorzeigen muss, wird organisiert, dass er ihn aus dem Schützengraben des Feindes vorübergehend zurück bekommt.
Das Weihnachtswunder an der Westfront bleibt begrenzt. Meist werden die Kämpfe für ein paar Tage, ein paar Wochen unterbrochen. Aber der Weihnachtsfrieden wirkt nach. Man vereinbart Warnschüsse, sobald neue Angriffe bevorstehen. Viele Soldaten schießen absichtlich über die Köpfe ihrer Kameraden auf der Gegenseite hinweg. Sie sind Tauben im Falkengefieder. Sie sind befreit zu widerstehen.
Zwei Geschichten, die Mut machen: Die Soldaten, die zwischen den Fronten miteinander Weihnachten feiern. Die Hebammen, die das Leben zur Welt bringen.
Jetzt die Gegengeschichte. Sie handelt davon, dass Anfang der sechziger Jahre der Psychologe Stanley Milgram die Bewohner von New Haven in den USA zur Teilnahme an einem psychologischen Experiment aufforderte.
Der Versuch sollte angeblich die Auswirkungen von Strafe auf das Lernen untersuchen. Dabei übernahm die Versuchsperson die Rolle des Lehrers, der Schüler blieb unsichtbar hinter einer Wand. Die Aufgabe des Lehrers bestand darin, dem Schüler Wortpaare vorzulesen, die dieser korrekt aus dem Gedächtnis wiedergeben sollte.
Für falsche Antworten sollte der Lehrer den Schüler mit einem Elektroschock bestrafen. Dazu hatte der Lehrer eine Schalttafel vor sich, auf der die Spannungen von 15 bis 450 Volt aufgetragen waren. Bei jeder falschen Antwort wurde ein um 15 Volt stärkerer Schock verabreicht.
Die Versuchsteilnehmer wussten nicht, dass in Wirklichkeit mit Hilfe dieses Experiments untersucht werden sollte, unter welchen Bedingungen Menschen bereit sind, anderen Schmerzen zuzufügen. Milgram wollte feststellen, ob und wann die Versuchsperson den Versuch von sich aus abbrechen würde.
Ab einer bestimmten Spannung hörte der Lehrer Schreie des Schülers. Sie wurden jedes Mal heftiger, bis der Schüler Lassen Sie mich hier raus! schrie. Ab 330 Volt hörten die Schreie plötzlich auf.
In Wirklichkeit wurden natürlich keine echten Elektroschocks verabreicht und die Schreie kamen vom Tonband. Überkamen dem Lehrer Zweifel, so wurde er vom Versuchsleiter mit Sätzen wie: Sie müssen unbedingt weitermachen zum Fortsetzen bewogen.
In Wirklichkeit hatte der Versuchsleiter natürlich keine Mittel, den Lehrer zum Weitermachen zu zwingen. Dennoch: Bis 300 Volt machten alle Teilnehmer den Versuch mit. Trotz der Schreie verabreichten 60% der Teilnehmer den höchsten Schock von 450 Volt.
Statt Befreit zum Widerstehen müsste die Überschrft über das Milgram-Experiment lauten: Gefangen im Mitmachen.
Mit den Konfirmanden haben wir am Donnerstag einen Filmausschnitt angeschaut, der von diesem Experiment erzählt. Hinterher waren wir gemeinsam ratlos: Wie kommt es?
Wie kommt es, dass so viele Menschen bei dem Versuch bis zum bitteren Ende mitmachen? Warum steigen so wenige aus, sobald sie die Schmerzen des anderen bemerken?
Die Fragen können wir noch weiter spannen: Warum sind die Soldaten nach der Weihnachtsfeier wieder in ihre Schützengräben und zu ihren Waffen zurückgegangen?
Warum sind andere Hebammen dem Befehl eines anderen Pharaos gefolgt und haben viel später zwischen lebenswertem und lebensunwertem Kinder unterschieden?
Das sind Fragen, die nicht weniger ratlos machen. Und auf die es womöglich nur eine richtige Antwort gibt: Nein.
Wolfgang Borchert schreibt: Du. Mann auf dem Dorf und Mann in der Stadt. Wenn sie morgen kommen und dir den Gestellungsbefehl bringen, dann gibt es nur eins: Sag NEIN!
Ich ergänze: Du. Frau in der Stadt und Frau auf dem Dorf. Wenn sie morgen kommen und zwischen lebenswertem und lebensunwertem Leben unterscheiden, dann gibt es nur eins: Sag NEIN! Du Frau, du Mann, ihr sollt, ihr müsst dann widerstehen. Wehe uns, wenn nicht.
Aber was befreit zum Widerstehen? Was hilft, Nein zu sagen? Was gibt der Taube Mut, den Falken entgegen zu fliegen?
Für die Soldaten im ersten Weltkrieg ist es die Sehnsucht nach dem Leben: Sie sitzen in den Schützengräben und singen Weihnachtslieder. Sie klingen nach fröhlichen Stimmen und leuchtenden Augen und bergendem Zuhause. Es sind dieselben Melodien, die in den französischen und belgischen und englischen und deutschen Stellungen erklingen. So hören sie jeder die Sehnsucht des anderen, die sich wie die eigene anhört. Für den Augenblick des Weihnachtsfriedens folgen sie dieser Melodie, die stärker und lauter in ihnen klingt als alle Schießbefehle. Sie sind befreit zu widerstehen.
Für Schifra und Pua, die beiden Hebammen ist es die Ehrfurcht vor dem Leben. Sie sitzen bei den gebärenden Frauen. Sie sehen die Kraft des neuen Lebens, das sich in schweren Wehen auf die Welt kämpft. Sie hören das erste erstaunt-entsetzte Schreien des Kindes und staunen über den kleinen Mund, der die Brust der Mutter findet. Da ist kein Unterschied zwischen dem einen oder dem anderen Leben. Da ist nur das eine Leben, das stärker ist als alle Mordbefehle. Sie sind befreit zu widerstehen.
In beidem entdecke ich Gottes Spuren. Ich entdecke bei den Soldaten, wie sie sich nach Gott sehnen. Nach einem, der endlich Frieden macht. Der den Kriegsherren Fesseln anlegt. Der die Waffen zerbricht und Schwerter zu Pflugscharen schmiedet. Der ihnen den Weg aus dem Schützengraben nach Hause zeigt.
In dieser Sehnsucht tritt Gott neben die Soldaten. In ihrer Sehnsucht macht er sie frei, für einen Augenblick wenigstens dem Krieg zu wiederstehen und dem Frieden zu dienen.
Bei den Hebammen entdecke ich, wie sie Gottes Nähe erfahren. Mit jedem Kind, dem sie in die Welt helfen, begegnen sie Gott. Sie spüren die unbändige Kraft und den unwiderstehlichen Willen, den er in seine Welt gelegt hat. Jede Geburt teilt ihnen von dieser Kraft Gottes und von seinem Willen mit. Sie macht sie frei, dem Todeswunsch des Pharaos zu widerstehen.
So werden die Soldaten und die Hebammen zu Boten des Friedens. Tauben, die sich aus dem Gebüsch wagen, während die Falken unterwegs sind.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen