Mit ausgebreiteten Armen

Das weiße Haus auf der Düne wird größer. Die Fähre schiebt sich durch die Fahrrinne dem Hotel und dem Hafen entgegen. Langsam ziehen die Sandbänke und die Birkenstämme an ihm vorüber.
Zu langsam für Karl, der über das Oberdeck der Fähre läuft. Die Jacke weht im Wind. Er spürt die Kälte nicht, der feine Sprühregen macht ihm nichts aus.
Er bleibt stehen, kneift die Augen zusammen und schaut in Richtung Anleger. Der Triebwagen ist noch nicht da. Karl schaut auf die Uhr. Er müsste gerade im Bahnhof losgefahren sein.
Karl läuft zum Heck und schaut in das aufgewühlte Fahrwasser, das die Fähre hinter sich herzieht. Oft ist er schon hin- und hergefahren. Noch nie hat es ihn so gestört wie heute. Dabei hätte er nicht aufs Schiff steigen müssen. Er hätte ganz einfach auf der Insel warten und ihn vom Hafen abholen können.
Aber er konnte nicht anders. Als er von seinem Großen hörte, dass der Kleine unterwegs sei, schaute er auf den Fährplan in seinem Portemonnaie, fuhr zum Hafen, stieg auf das Schiff, das den Kleinen zurück auf die Insel bringen müsste.
Karl läuft wieder nach vorne. Es ist nicht mehr weit. Er erkennt den blau-gelben Anleger, das Bistrogebäude, ein paar Autos, die in den Wartespuren stehen. Der rot-weiße Triebwagen ist noch nicht da.

Gerade fährt er an ein paar Gehöften vorbei und einer Kirche, die über ihnen auf einer Warft thront. Peter schaut aus dem Zugfenster. Vertraut ist ihm all das, was er sieht. So oft ist er die Strecke gefahren, auf dem Weg zur Berufsschule.
Dennoch ist es, als sähe er heute alles zum ersten Mal – fremde Heimat. Wie lange ist es her, dass er all das hinter sich ließ?
Er musste damals weg. Er hielt es nicht mehr aus. Eingesperrt kam er sich vor. Zu eng war es auf der Insel. Überall, wo er hinkam, traf er Menschen, die er kannte und die alles über ihn wussten. Jedenfalls meinten sie das.
Zu eng war es auch in der Familie. Was er auch anging, immer versperrte der Große ihm den Weg. Ständig hielten sie ihm sein Vorbild hin: „Schau auf den Großen, der hat doch …“
„So ist das hier“, dachte er, als er den Film „Flucht von Alcatraz“ sah: „Eine Gefängnisinsel.“ Wie Clint Eastwood begann er Fluchtpläne zu schmieden. Er wollte verschwinden, um frei zu sein. Und nie, nie wieder kommen.
Dabei war das Schwere gar nicht die Flucht. Das Schwere war das Leben danach.
Er ging zu seinem Vater und sagte: „Ich muss weg.“ „Wo willst du hin?“, fragte der. „In die Stadt.“ – „Was willst du dort tun?“ – „Arbeiten, leben.“ – „Gut. Mach das.“
Sein Herz hüpfte damals vor Freude. So einfach war das. Jetzt schaut er aus dem Zugfenster und staunt über die neuen Holzferienhäuser und fragt sich, ob er nicht insgeheim auf Widerspruch gewartet hatte: „Bleib doch.“
Aber der einzige Widerspruch, der kam, waren die Tränen seiner Mutter und das Kopfschütteln seines Bruders: „Tu, was du nicht lassen kannst.“ Vom Vater kam stattdessen eine große Überweisung auf sein Konto. „Damit du einen Anfang hast in der Stadt.“
Den hatte er. Auch dank der Insulaner, die es natürlich in der Stadt gab. Bei einem von ihnen schlüpfte er unter, bis er seine eigene kleine Wohnung hatte. Ein anderer vermittelte ihm einen Job im Hafen.
Er genoss das Leben. Wenn er frei hatte, war er unterwegs, mit den Insulanern, mit den neuen Kollegen vom Hafen. Kino, Kneipen, Diskos. Alles probierte er aus. Ja, Mädchen auch.
Das Geld zerronn ihm zwischen den Fingern, er wusste nicht wie. Nach einem Jahr war der gute Anfang, den ihm der Vater überwiesen hatte, aufgebraucht.
Er zog weiter: Im Hafen lernte er einen Matrosen kennen; der nahm ihn mit aufs Schiff. Er kämpfte erst mit der Seekrankheit. Aber als er sich ans Rollen des großen Containerschiffs gewöhnt hatte, war es ein angenehmes Leben. Er hatte es in der Kajüte trocken und warm und Essen gab es mehr als genug. Da störte es nicht, wenn die Heuer nicht regelmäßig kam.
Bis das Schiff vor ein paar Wochen beschlagnahmt wurde. Der Reeder war pleite. Er saß in Maputo in einem schäbigen Hotel fest, von dem er nicht wusste, wie er es bezahlen sollte.
In dem fremden Land irgendwo in Afrika endete seine Flucht. Der einzige Weg, der aus Sackgasse führte, ging zurück auf die Insel. Er kämpfte mit sich. Was würde der Bruder sagen? Was der Vater? Wie würden die Dorfleute tratschen? Wenn er wieder da wäre? Gescheitert in der Stadt und gestrandet in der weiten Welt?
Jeden Tag in Maputo sehnte er sich mehr nach der Insel. Aus Alactraz wurde das versunkene Rungholt. Die Enge der Insel wirkte aus der Ferne wie ein bergendes Nest. Die Familienbande versprachen Halt.
Er fand ein Internetcafé. Die erste Mail kam postwendend zurück: „Undelivered Mail Returned to Sender.“ Google verriet ihm die neue E-Mail-Adresse seines Vaters. Er schrieb erneut: „Vater, ich will nach Hause kommen. Aber ich brauche Geld. Ich werde es bei dir abarbeiten.“
Den nächsten und den übernächsten Tag kehrte er ins Internetcafé zurück und fragte ohne Erfolg seinen Account ab. Am dritten Tag dann die Nachricht:
„komm heim. ich wart auf dich. du warst zu lange fort. ich liebe dich. komm heim.“
Da ist er jetzt fast: Zurück auf der Insel. Eine Dreiviertelstunde auf der Fähre trennt ihn noch von ihr. Zeit nachzudenken: Ob sie ihm wieder ein Zuhause wird? Oder ob er bald erneut von ihr fliehen will oder wird?
Er steigt aus dem Zug, wirft den Rucksack über die Schulter und geht die paar Schritte zum Fähreinstieg. Der Mann von der Reederei knipst die Karte und lächelt ihn an. „Moin!“ – „Moin!“, antwortet er. Kennt er ihn? Er weiß es nicht.
Er steckt die Fahrkarte weg und geht langsam den Seiteneinstieg hinauf. Den gab es noch nicht, als er die Insel verließ.
Er ist allein. Alle, die mit ihm im Zug saßen, sind schon auf dem Schiff. Am Ende des Seiteneinstiegs steht einer und schaut ihm entgegen.

Karl ist aus dem Schiff in den Seiteneinstieg hinausgetreten, als er sieht, dass der Triebwagen am Bahnsteig hält. Unruhig sucht er die Gesichter der Menschen ab, die aussteigen.
Er kennt sie. Die Tochter des Nachbarn, die aus der pädagogischen Schule in kommt. Der Jagdkollege, der seine Frau im Krankenhaus besucht hat. Ein paar laute Handwerker, die auf einer Baumesse einen gehoben haben.
Dann befindet sich nur noch einer auf dem Weg den Seiteneinstieg hoch. Fremd sieht er aus. Harte Gesichtszüge, zögernder Schritt. Und doch vertraut: der Schwung, mit dem er den Rucksack überwirft, die Hand, die durch die Haare fährt. Daran erkennt er ihn.
Karl läuft los. Erst langsam, dann immer schneller. Er läuft auf den Fremden zu, der sein Sohn ist. Im Laufen schon breitet er die Arme aus.

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