Zwillinge
Paul
hatte es gut getroffen.
Schon
von Kindheit an. In der Schule war er immer etwas schneller als die
anderen. Das Lernen fiel ihm leicht.
Was
ihm einmal erklärt wurde, verstand er, und was er einmal gehört
oder gelesen hatte, konnte er sich merken.
Das
blieb auch im Studium so. Ingenieur für Luftfahrttechnik studierte
er. Und nebenher – weil ihm das eine Fach zu einseitig schien –
schrieb er sich auch für Philosophie ein.
Schon
beim ersten Praktikum in diesem mittelständischen
Familienunternehmen wurden sie auf ihn aufmerksam: Da war einer, der
schnell verstand. Der Lösungen suchte, wo andere noch nicht einmal
das Problem gesehen hatten.
Und
obwohl es nur ein Praktikum war, kam er immer als einer der ersten
und blieb, bis sie die Firma abschlossen.
Keine
Überraschung für ihn, dass der Seniorchef ihn umwarb, als sein
Studium auf das Ende zuging. Nur der Jahresverdienst, den sie ihm
anboten, erstaunte ihn: Er übertraf seine Erwartungen bei weitem.
Aber
er wehrte sich nicht dagegen. Warum auch? Er leistete einiges, was
andere nicht leisten konnte; und konnte sich dafür einiges leisten,
was andere sich nicht leisten konnten.
Die
Wohnung, die eigentlich zu groß war für ihn allein und die paar
Möbel, die er hineinstellte. Und das Auto, das eigentlich zu groß
war für die Parklücken in der Stadt.
Aber
es machte Spaß, es zu fahren, wenn er am Wochenende an die Nordsee
aufbrach. Oder auch nur zum Flughafen fuhr, um für zwei Tage nach
New York zu jetten.
Paul
hatte es gut getroffen, Das Leben hatte es gut mit ihm gemeint. Und
er hatte etwas daraus gemacht.
Jeremia
sagt:
So
spricht der HERR: Wer weise ist, rühme sich nicht seiner Weisheit,
und der Starke rühme sich nicht seiner Stärke, wer reich ist, rühme
sich nicht seines Reichtums.
(Jeremia 9,22 – Zürcher Bibel)
Eines
Abends traf Paul auf Claas. Nahezu wortwörtlich tat er das: Er
stolperte über ihn.
Das
war, als Paul aus dem Theater kam und durch die Unterführung zur
U-Bahn ging, die er ausnahmsweise nehmen wollte, weil die
Theaterkarte auch als Nahverkehrsticket galt.
Er
fing an zu laufen, als er den Luftzug der einfahrenden Bahn spürte,
und bog laufend um einen Pfeiler. Da lag Claas in seinem Schlafsack
und mit seinen Taschen – und Paul stürzte über ihn.
Er
fluchte und rieb sich das Knie und stand auf und starrte wütend auf
den anderen herab und – erstarrte: Es war ihm, als schaute er in
einen Spiegel.
Dieser
… dieser Penner sah aus wie er – nur in ungepflegt. Doch, es war,
als hätte ihm einer einen Spiegel vorgehalten, der sein Gesicht
grotesk verzog. Und doch: Es war sein Gesicht.
Das
dachte sich auch Claas, der genauso erstarrte. Der über ihn
gestolpert war, sah aus, wie er ausgesehen hätte, wenn das Leben
anders zu ihm gewesen wäre.
Er
schaute in das Gesicht des anderen und sah einen Zwilling von sich
selber in gepflegt und reich.
So
hatten sie sich getroffen, Paul und Claas. Der eine rieb sich das
Knie, der andere den Oberschenkel.
Und
Claas sagte vorwurfsvoll: „Ey, Mann!“, und Paul stöhnte: „Ah!“,
während sie sich weiter anstarrten. Später wusste keiner der beiden
zu sagen, wer dem anderen zuerst die Hand reichte.
„Ich
bin Claas!“ – „Ich bin Paul!“ Und Claas hielt Paul eine
Bierdose hin und sagte: „Prost!“ und Paul nahm die Dose und ließ
sich neben Claas auf den Boden fallen und sagte: „Danke!“
Als
das Bier alle war, nahm Claas die Einladung an und kam mit in Pauls
Wohnung. Einmal warm duschen und ruhig schlafen in einem Bett, das
fast zu weich war.
Paul
ließ ihn schlafen, als er am nächsten Morgen zur Arbeit fuhr. Claas
war noch da, als Paul am Abend wiederkam.
Sie
saßen bis spät in die Nacht zusammen und Paul hörte zu, wie Claas
erzählte.
Von
der Mutter, die besser keine Kinder bekommen hätte. Aber da er nun
mal da war, störte er. Was sie ihn spüren ließ. Im besten Fall
durch Nichtbeachtung, im schlimmsten Fall durch Schläge.
Auch
die Lehrer konnten mit dem Kind nichts anfangen, das nicht lernen
wollte. Es prügelte seine Wut und seine Verzweiflung auf die
Mitschüler nieder.
Als
Claas einen der Lehrer angriff, flog er von der Schule und bei seiner
Mutter raus. Er kam ins Heim und floh immer wieder auf die Straße
und in die Parks.
Dort
träumte er sich mit Alkohol und Drogen in eine Leben, das vielleicht
so aussah wie das von Paul.
Aber
wenn er so da lag auf seiner Matte in der U-Bahn und sie ihn dort
liegen ließen und er dann all die Menschen sah, die mit teuren
Anzügen und leeren Gesichtern an ihm vorbeiliefen – oder über ihn
stolperten –, dann, ja, dann war er manchmal, nein, nicht
glücklich, aber doch einverstanden mit dem Spiel, das das Leben mit
ihm spielte.
Ausgesucht
hätte er es sich nicht, wenn er je eine Wahl gehabt hätte. Aber da
ihn das Leben nun mal so gefunden hätte, musste er es leben.
Irgendwann,
als er sich die erste Kornflasche eines langen Tages aufmachte, hatte
er das verstanden. Und dann die Flasche wieder zugeschraubt.
Er
war an jenem Abend das erste Mal seit langem wieder nüchtern
eingeschlafen. Und die Welt und das Leben hatten Farbe gewonnen.
So
hatte es Claas getroffen.
Und
Jeremia sagt:
So
spricht der HERR: Wer weise ist, rühme sich nicht seiner Weisheit,
und der Starke rühme sich nicht seiner Stärke, wer reich ist, rühme
sich nicht seines Reichtums.
Sondern
dessen rühme sich, wer sich rühmt: einsichtig zu sein und mich zu
erkennen, dass ich, der HERR, es bin, der Gnade, Recht und
Gerechtigkeit übt auf Erden, denn daran habe ich Gefallen.
(Jeremia 9,22-23 – Zürcher Bibel)
Seit
Paul und Claas sich in der U-Bahn begegnet sind und auf dem Sofa ihre
Geschichten erzählt haben, sind ein paar Monate vergangen.
Claas
hat nicht wieder in der U-Bahn und auch an keinem anderen Ort draußen
übernachtet. Er wohnt immer noch bei Paul. Platz genug ist dort ja.
Und auch an das weiche Bett hat er sich inzwischen gewöhnt.
Aber
Claas ist noch oft unterwegs in den Unterführungen und in den Parks.
Er kennt ja die einschlägigen Plätze und sucht sie auf.
Decken
hat er dann mit und Schlafsäcke und eine Thermoskanne und auch ein
paar Äpfel. Und immer nimmt er auch Zeit mit, viel Zeit.
Er
setzt sich hin zu den alten Kumpels und zu denen, die neu sind auf
der Platte. Er hört ihre Geschichten und er sieht ihre Probleme.
Manchmal
hat er Lösungen. Einen Termin bei einem Arzt etwa, wegen der Wunde,
die nicht verheilen will.
Die
Rechnung übernimmt eine Stiftung. Paul hat sie eingerichtet. Aus
seinem Vermögen und dem, was er bei Freunden und Geschäftspartnern
eingeworben hat. Steuerlich absetzbar.
Selten
kommt auch Paul mit in die U-Bahn oder den Park. Dann sagen sie dort:
Schaut mal, die Zwillingen kommen.
Aber
sie merken es schnell und auch Paul weiß es: Nur einer von ihnen
beiden gehört dorthin. Und er staunt, wie Claas mit zwei Worten das
Vertrauen gewinnt.
Auch
Claas geht manchmal mit Paul mit, wenn der das Theater besucht. Die
Leute sehen sie an und lächeln, wie man es tut, wenn man Zwillinge
sieht.
Und
Claas sieht in ihre Gesichter, aber sie bleiben für ihn grau, sie
sprechen nicht. Und er staunt, wie Paul leicht und fröhlich mit den
Graugesichtern spricht.
So
teilen sie miteinander das Leben. Sie kennen das Leben des anderen,
dennoch bleibt es ihnen fremd.
Ihre
Leben berühren sich und bleiben doch getrennt. Ihre Leben
unterscheiden sich und gehören doch zusammen, so wie Zwillinge
zusammengehören und sich unterscheiden.
Als
wären ihre unterschiedlichen Leben in derselben Mutter gewachsen und
vom selben Vater gezeugt – und doch zwei ganz eigene Leben
geworden.
Und
Jeremia sagt:
Dessen
rühme sich, wer sich rühmt: einsichtig zu sein und mich zu
erkennen, dass ich, der HERR, es bin, der Gnade, Recht und
Gerechtigkeit übt auf Erden, denn daran habe ich Gefallen. Spruch
des HERRN.
(Jeremia 9,23 – Zürcher Bibel)
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