Der sprachlose Engel


Federn raschelten, Gewänder knisterten. Die himmlischen Heerscharen bereiteten sich vor. Füße suchten festen Stand, Köpfe hoben sich in den Himmel.
Für einen Augenblick schwebte Stille durch die Luft. Dann begann es zu singen und zu klingen. Glasklare Stimmen, übereinander, nebeneinander, miteinander. Jede sang für sich. Alle klangen zusammen. Die Luft schwang.

Ehre sei Gott in der Höhe.“ Alle sangen. Fast alle. Einer blieb stumm. Er stand an seinem Platz in den himmlischen Heerscharen.
Er raschelte mit den Federn und knisterte mit seinem Gewand. Seine Füße suchten festen Stand, er hob den Kopf in den Himmel.
Er öffnete und schloss den Mund. Er fühlte die Stimmen der anderen in seinem Bauch. Er formte die Töne, die er singen sollte, in seinem Kopf. Aber er blieb stumm.
So war es vorher schon oft gewesen. Sie nannten ihn den sprachlosen Engel. Das war nicht ganz richtig. Er konnte sprechen und reden. Nur singen konnte er nicht. Nicht mehr.

Ehre sei Gott in der Höhe.“ Es gab eine Zeit, sofern man bei Engeln von Zeit reden kann, da konnte der sprachlose Engel mit den anderen singen. Das war in seinen Kindertagen. So würde man es jedenfalls bei Menschen sagen.
Da sang er mit den anderen. Laut sangen sie und durcheinander, aber voller Freude.
So wie er sich erinnerte, klang es damals schöner als der glasklare Gesang, den er jetzt um sich herum hörte. Es passten damals nicht alle Töne zusammen.
Aber sein Gesang brachte ihn selber zum Klingen. In ihm schwang alles mit. Er sang nicht nur. Er war der Gesang, vom Kopf, der sich von selber in den Himmel hob, bis zu den Füßen, die fest verwurzelt standen.

Ehre sei Gott in der Höhe.“ So hatten sie damals gesungen, sofern es für Engel ein Damals gibt. So sangen jetzt alle um den sprachlosen Engel herum. Mit ihren glasklaren Stimmen sangen sie.
Sie störten sich nicht daran, dass er stumm blieb. Sie hatten sich längst daran gewöhnt, dass er nur den Mund öffnete und schloss und einatmete und ausatmete, ohne dass er die Luft zum Schwingen brachte.
Sie sangen einfach für ihn mit. So wie sie es immer taten, wenn eine Stimme ausfiel, welche Gründe es dafür auch geben mochte. Das war ihre Aufgabe.
Sie waren die himmlischen Heerscharen. Sie brachten immer und ständig das Lob Gottes zum Klingen. Wenn einer nicht einstimmen konnte, übernahmen andere seinen Part für ihn. Seine Stimme fehlte und dennoch füllte das Lob weiter den Himmel.

Ehre sei Gott in der Höhe.“ Um den sprachlosen Engel herum schwang das Lob Gottes. Auch in ihm klang es. So oft hatte er es selber gesungen. Er wollte gern mit einstimmen, seine Stimme unter die anderen mischen.
Das Lob der himmlischen Heerscharen, so schien es ihm, klang in dieser Nacht anders als sonst. Glasklar und rein schwebte es für gewöhnlich durch die Luft.
So schön klang es dann, dass es an ihm abperlte. Fern blieb das Lob, es erreichte ihn nicht. Es nahm ihn nicht auf, er blieb außen vor, obwohl er mittendrin stand im Gesang. Aber hier und jetzt rührte ihn etwas an, sofern es für Engel ein Hier und Jetzt geben kann.
Vielleicht hatte es mit dem Ort zu tun, an dem sie sangen. Fern vom Tempel, als wäre das Lob Gottes hinausgezogen aus dem Allerheiligsten, wo es nur für sich selber klang. Hinaus in die Welt, damit die Menschen es hören konnten.
Vielleicht hatte es auch mit der Zeit zu tun, zu der sie sangen. Mitten in der tiefen Nacht, wo es nichts zu sehen gab als das Feuer, das ein paar versprengte Hirten entzündet hatten. Kein blendendes Licht, in dem sich der heilige Gott vor allen Blicken verbarg.

Ehre sei Gott in der Höhe.“ Das Lob klang hier und jetzt ehrlicher. Als wäre es nicht nur eine Aufgabe, sondern auch ein Anliegen.
Warum er nicht mitsang, hatten die anderen den sprachlosen Engel immer wieder gefragt, als seine Singstimme verstummt war.
Meistens hatte er als Antwort nur mit den Schultern gezuckt, bis die Fragen ihrerseits verstummt waren. Nur einmal, ein einziges Mal hatte er dem Erzengel eine Antwort gegeben.
Er hatte ihm erzählt von dem Leid, das ihm die Kehle zuschnürte.
Ich sehe mir die Menschen an und sehe die Frau, die an der Straße sitzt und blind den Leuten ihre Hand entgegenstreckt. Und ich sehe den Soldaten, der sich einfach nimmt, was er will. Und ich sehe das Kind, das seine Zukunft als Sklave seines Spielkameraden hat. Wie soll ich da singen?“
Er hatte dem Erzengel auch erzählt von der Wut, die ihm die Luft raubte: „Wie könnt ihr Gott loben mit reinen Stimmen im Allerheiligsten? Seid ihr blind und taub? Ich kann Gott nicht loben, solange die Welt ist, wie sie ist.“
Er selber war erschrocken über seine Worte. Der Erzengel hatte ihn lange angeschaut und dann gesagt: „Warte nur ab. Es kommt die Zeit.“

Ehre sei Gott in der Höhe.“ Die letzten Töne verklangen, der Himmel schwang aus. Es raschelte und knisterte, die himmlischen Heerscharen zogen sich zurück.
Der Erzengel kam zum sprachlosen Engel. „Jetzt ist die Zeit da!“, sagte er, „komm mit und sieh!“ Er nahm ihn an die Hand und führte ihn zu einem Stall.
Menschen sah er dort, eine junge Frau, einen älteren Mann. Sie standen an einer Futterkrippe. In deren Stroh lag ein Kind und schlief den ersten Schlaf eines Neugeborenen.
Siehst du?!“, sagte der Erzengel. Und der sprachlose Engel sah. Er sah das Kind und er erkannte Gott. Fern vom Allerheiligsten, mittendrin im Leben. Kein Licht, das blendete, sondern eines, das wärmte.
Er sah das Kind und er erkannte Gott bei den Menschen. Er ahnte: Die Welt würde sich nicht ändern. Es würde weiter Blinde geben und Soldaten und Arme und Reiche.
Aber er wusste auch: Die Welt war jetzt eine andere als vorher, sofern es für Gott ein Jetzt und ein Vorher gab. Jetzt war Gott in ihr. Ganz nah bei den Menschen.
Der sprachlose Engel raschelte mit den Federn und knisterte mit seinem Gewand. Er stellte seine Füße auf den Boden und hob den Kopf in den Himmel.
Er schaute auf das Kind. Die Töne füllten ihn aus und begannen in ihm zu schwingen. Endlich, endlich lösten sie lösten sich und die Luft im Stall begann leise zu klingen.
Ehre sei Gott in der Höhe.“

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