Unter Sternen über Steine

1

Einen Augenblick noch. Die Hirten stehen im Stall. Einer stützt sich auf seinen Stock. Ein anderer lehnt mit dem Rücken an der Stallwand.
Sie schweigen und schauen. Ihr Blick geht hinaus in die Nacht, aus der sie kommen. Sie sehen den Weg, den sie unter Sternen und über Steine hierher in den Stall gegangen sind.
Sie sehen die Herde, die sie zurückgelassen haben. Dort beim Feuer, bewacht nur von den Hunden und einem Hirten, der lieber blieb, wo er war.
So viel mehr noch steigt wie aus grauen Nebelschleiern vor ihnen auf.
Da waren die Lämmer, die im Frühjahr die Herde aufmischten und den Mutterschafen und ihnen, den Hirten, keine Ruhe ließen.
Da waren die Räuber, die sie eines Nachts überfielen und sich Schafe und Lämmer nahmen und sie vor ihren Augen schlachteten.
Da waren ihre Kinder, die zwischen den Schafen aufwuchsen. Sie mussten von dem Wenigen leben, das sie als Lohn bekamen. Aber jedes hatte sein Lieblingslamm und gab ihm einen Namen und tobte mit ihm herum.
Die Hirten schweigen und schauen. Ihr Blick geht hinaus in die Nacht, aus der sie kommen.


2

Einen Augenblick noch. Dann ist das Jahr zu Ende. Und mit ihm auch die merkwürdige Zeit zwischen den Jahren – die Zeit, auf das Jahr zu schauen, aus dem wir kommen.
Unter Sternen und über Steine sind wir bis hierher gegangen. Den Alltag haben wir hinter uns gelassen. Weil wir gerade erst von einem Fest kommen. Weil Urlaub ist auf der in diesen Tagen nicht ganz so einsamen Insel.
Festzeit, Urlaubszeit – Zeit auch, am Strand des Jahres die Steine aufzusammeln. Sie erzählen von Ärger und Streit, erinnern an Trauer und Schmerz.
Sie gehören zu unserem Leben. Oft genug gegen den eigenen Willen. Doch wenn eine Welle über die Steine schwappt, beginnen sie leise zu glänzen.
Fast so wie am Himmel des Jahres die Sterne strahlen. Die erinnern an Freude und Lust, erzählen von hüpfenden Herzen und lachenden Gesichtern.
Wenn wir den Kopf in den Nacken legen und nach ihnen schauen, entdecken wir immer mehr von ihnen. Große und kleine Lichter, die uns anblinken.
So bleibt er uns gegenwärtig, der Weg, den wir unter Sternen und über Steine durch dieses Jahr gegangen sind.


3

Einen Augenblick noch. Die Hirten stehen im Stall. Ihr Blick richtet sich auf das Kind, das vor ihnen in der Krippe liegt. Still liegt es dort und schläft den Schlaf eines Neugeborenen.
An einem Händchen bewegen sich die winzigen Finger. Ein Beinchen zuckt. Um den Mund spielt ein Lächeln.
So zart es aussieht, so alt und weise wirkt es. Als wisse es, wo es herkommt und hingeht. Und wer die Hände unter ihm und über ihm ausbreitet.
Das Kind in der Krippe sieht aus, als wisse es alles, was sie, die Hirten, gerade erst glauben lernen. Sie schauen es an und können sich nicht satt sehen.
Jede Regung saugen sie auf wie frisches Wasser. Mit der Hand schöpfen sie es aus einer Quelle, die sie an einem heißen Tag unverhofft zwischen staubigen Felsen finden.
Kühl und klar läuft es über die geöffnete Handfläche, es benetzt die trockenen Lippen und stillt den Durst, der eben noch in der Seele brannte.
Die Hirten schweigen und schauen. Sie lernen Vertrauen in den Frieden, der von diesem Kind ausgeht und in ihr Leben quillt.


4

Einen Augenblick noch. Jetzt sind wir hier. Die Menschen, die wir sind. Mit den Steinen und Sternen, die wir über das Jahr gesammelt haben. Wir halten sie in der Hand.
Wir bewegen sie im Gedächtnis und im Herzen. Wir tragen sie zu Gott. Im Gebet schauen wir auf ihn. Zeigen ihm unser Leben. Zeigen uns selber.
Und Gott sieht auf unsere Sterne und Steine und schaut uns an. Und wir erkennen, wie er uns erkennt.
Mit dem Durst, den wir mal stärker, mal schwächer empfinden. Danach, dass unsere Sehnsucht gestillt wird. Dass etwas heil wird und ein Ganzes. Dass es gut wird und bleibt.
Und mit dem Vertrauen, das wir mal weniger, mal mehr wagen. Darin, dass es genau so ist: Wir waren behütet, als wir unter Sternen und über Steine gingen. Wir sind es noch. Wir werden es bleiben.
So und noch ganz anders sind wir jetzt hier. Und können die Hand in die Quelle tauchen und das Wasser zum Mund führen und es kühl und klar schmecken.
Gott spricht: Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst.
Frieden, der überfließt und in unser Leben quillt.


5

Einen Augenblick noch. Dann brechen die Hirten wieder auf. Über Steine und unter Sternen kehren sie aus dem Stall und vom Kind zurück in ihr Leben.
Hier haben sie Frieden gefunden. Einen Augenblick Frieden. Der hat sie versöhnt mit dem Weg, den sie gegangen sind. Mit den Räubern und den Alltagssorgen. Mit dem Schönen, das verblasst wie ein Schatten, wenn sich Wolken vor die Sonne schieben.
Sie müssen das Kind im Stall zurücklassen. Nur die Erinnerung nehmen sie mit. An das Gesicht, in das sie geschaut haben. Und an das Leben, das ihnen entgegen geblickt hat.
Auch der Friede bleibt im Stall. Könnten sie ihn sich doch umlegen wie ein Schaffell. Überall würde seine Wärme und sein Duft sie einhüllen.
Aber immerhin: Sie haben den Frieden einmal geschnuppert und einmal gespürt. Jetzt kennen sie ihn. Überall und immer, wenn sie ihm begegnen, werden sie ihn wiedererkennen.
Über Steine werden sie ihre Herde treiben und unter den Sternen ihre Schafe weiden. Und immer werden sie dabei mit wachen Sinnen und springendem Herzen nach dem Frieden suchen, den sie jetzt empfinden.
Hier im Stall, beim Kind, bei dem sie sind.

6

Einen Augenblick noch. Dann gehen wir über die Schwelle ins neue Jahr. Und früher oder später legt die Fähre ab und auch auf der Insel wird es Alltag.
Ausgetretene Pfade warten. Wir stolpern über allzu bekannte Steine und freuen uns an vertrauten Sternen. Hier und da tun sich neue Wege auf. Ein unbekannter Stern geht über uns auf. Plötzlich stoßen wir an einen Stein, der vorher noch nicht da war.
Immerhin: Mit leichtem Gepäck gehen wir los. Was war, liegt bei Gott. In seinem Frieden haben wir es abgelegt. Dort ist es gut aufgehoben.
Und solange im Rücken keine Last drückt, sind wir frei, uns umzuschauen. Uns zu bücken und die Steine aufzuheben, die dort liegen. Und uns zu strecken, um uns die Sterne vom Himmel zu holen.
Dann und wann werden wir außer uns geraten. Weil es um uns glitzert und strahlt, bunt und schön. Und hier und da werden wir alle guten Vorsätze vergessen, weil wir stolpern und uns die Knie aufstoßen.
Dann sind wir mitten auf dem Weg, den unverhofft der Friede kreuzt, leicht und bunt wie ein Schmetterling. Erst folgen wir ihm mit den Augen. Dann gehen, laufen, springen wir ihm nach.
Suche den Frieden und jage ihm nach. Er wird dich finden.

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