Unter Sternen über Steine
Einen Augenblick noch. Die Hirten
stehen im Stall. Einer stützt sich auf seinen Stock. Ein anderer
lehnt mit dem Rücken an der Stallwand.
Sie schweigen und schauen. Ihr Blick
geht hinaus in die Nacht, aus der sie kommen. Sie sehen den Weg, den
sie unter Sternen und über Steine hierher in den Stall gegangen
sind.
Sie sehen die Herde, die sie
zurückgelassen haben. Dort beim Feuer, bewacht nur von den Hunden
und einem Hirten, der lieber blieb, wo er war.
So viel mehr noch steigt wie aus
grauen Nebelschleiern vor ihnen auf.
Da waren die Lämmer, die im Frühjahr
die Herde aufmischten und den Mutterschafen und ihnen, den Hirten,
keine Ruhe ließen.
Da waren die Räuber, die sie eines
Nachts überfielen und sich Schafe und Lämmer nahmen und sie vor
ihren Augen schlachteten.
Da waren ihre Kinder, die zwischen den
Schafen aufwuchsen. Sie mussten von dem Wenigen leben, das sie als
Lohn bekamen. Aber jedes hatte sein Lieblingslamm und gab ihm einen
Namen und tobte mit ihm herum.
Die Hirten schweigen und schauen. Ihr
Blick geht hinaus in die Nacht, aus der sie kommen.
2
Einen Augenblick noch. Dann ist das
Jahr zu Ende. Und mit ihm auch die merkwürdige Zeit zwischen den
Jahren – die Zeit, auf das Jahr zu schauen, aus dem wir kommen.
Unter Sternen und über Steine sind
wir bis hierher gegangen. Den Alltag haben wir hinter uns gelassen.
Weil wir gerade erst von einem Fest kommen. Weil Urlaub ist auf der
in diesen Tagen nicht ganz so einsamen Insel.
Festzeit, Urlaubszeit – Zeit auch,
am Strand des Jahres die Steine aufzusammeln. Sie erzählen von Ärger
und Streit, erinnern an Trauer und Schmerz.
Sie gehören zu unserem Leben. Oft
genug gegen den eigenen Willen. Doch wenn eine Welle über die Steine
schwappt, beginnen sie leise zu glänzen.
Fast so wie am Himmel des Jahres die
Sterne strahlen. Die erinnern an Freude und Lust, erzählen von
hüpfenden Herzen und lachenden Gesichtern.
Wenn wir den Kopf in den Nacken legen
und nach ihnen schauen, entdecken wir immer mehr von ihnen. Große
und kleine Lichter, die uns anblinken.
So bleibt er uns gegenwärtig, der
Weg, den wir unter Sternen und über Steine durch dieses Jahr
gegangen sind.
3
Einen Augenblick noch. Die Hirten
stehen im Stall. Ihr Blick richtet sich auf das Kind, das vor ihnen
in der Krippe liegt. Still liegt es dort und schläft den Schlaf
eines Neugeborenen.
An einem Händchen bewegen sich die
winzigen Finger. Ein Beinchen zuckt. Um den Mund spielt ein Lächeln.
So zart es aussieht, so alt und weise
wirkt es. Als wisse es, wo es herkommt und hingeht. Und wer die Hände
unter ihm und über ihm ausbreitet.
Das Kind in der Krippe sieht aus, als
wisse es alles, was sie, die Hirten, gerade erst glauben lernen. Sie
schauen es an und können sich nicht satt sehen.
Jede Regung saugen sie auf wie
frisches Wasser. Mit der Hand schöpfen sie es aus einer Quelle, die
sie an einem heißen Tag unverhofft zwischen staubigen Felsen finden.
Kühl und klar läuft es über die
geöffnete Handfläche, es benetzt die trockenen Lippen und stillt
den Durst, der eben noch in der Seele brannte.
Die Hirten schweigen und schauen. Sie
lernen Vertrauen in den Frieden, der von diesem Kind ausgeht und in
ihr Leben quillt.
4
Einen Augenblick noch. Jetzt sind wir
hier. Die Menschen, die wir sind. Mit den Steinen und Sternen, die
wir über das Jahr gesammelt haben. Wir halten sie in der Hand.
Wir bewegen sie im Gedächtnis und im
Herzen. Wir tragen sie zu Gott. Im Gebet schauen wir auf ihn. Zeigen
ihm unser Leben. Zeigen uns selber.
Und Gott sieht auf unsere Sterne und
Steine und schaut uns an. Und wir erkennen, wie er uns erkennt.
Mit dem Durst, den wir mal stärker,
mal schwächer empfinden. Danach, dass unsere Sehnsucht gestillt
wird. Dass etwas heil wird und ein Ganzes. Dass es gut wird und
bleibt.
Und mit dem Vertrauen, das wir mal
weniger, mal mehr wagen. Darin, dass es genau so ist: Wir waren
behütet, als wir unter Sternen und über Steine gingen. Wir sind es
noch. Wir werden es bleiben.
So und noch ganz anders sind wir jetzt
hier. Und können die Hand in die Quelle tauchen und das Wasser zum
Mund führen und es kühl und klar schmecken.
Gott spricht: Ich will dem Durstigen
geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst.
Frieden, der überfließt und in unser
Leben quillt.
5
Einen Augenblick noch. Dann brechen
die Hirten wieder auf. Über Steine und unter Sternen kehren sie aus
dem Stall und vom Kind zurück in ihr Leben.
Hier haben sie Frieden gefunden. Einen
Augenblick Frieden. Der hat sie versöhnt mit dem Weg, den sie
gegangen sind. Mit den Räubern und den Alltagssorgen. Mit dem
Schönen, das verblasst wie ein Schatten, wenn sich Wolken vor die
Sonne schieben.
Sie müssen das Kind im Stall
zurücklassen. Nur die Erinnerung nehmen sie mit. An das Gesicht, in
das sie geschaut haben. Und an das Leben, das ihnen entgegen geblickt
hat.
Auch der Friede bleibt im Stall.
Könnten sie ihn sich doch umlegen wie ein Schaffell. Überall würde
seine Wärme und sein Duft sie einhüllen.
Aber immerhin: Sie haben den Frieden
einmal geschnuppert und einmal gespürt. Jetzt kennen sie ihn.
Überall und immer, wenn sie ihm begegnen, werden sie ihn
wiedererkennen.
Über Steine werden sie ihre Herde
treiben und unter den Sternen ihre Schafe weiden. Und immer werden
sie dabei mit wachen Sinnen und springendem Herzen nach dem Frieden
suchen, den sie jetzt empfinden.
Hier im Stall, beim Kind, bei dem sie
sind.
6
Einen Augenblick noch. Dann gehen wir
über die Schwelle ins neue Jahr. Und früher oder später legt die
Fähre ab und auch auf der Insel wird es Alltag.
Ausgetretene Pfade warten. Wir
stolpern über allzu bekannte Steine und freuen uns an vertrauten
Sternen. Hier und da tun sich neue Wege auf. Ein unbekannter Stern
geht über uns auf. Plötzlich stoßen wir an einen Stein, der vorher
noch nicht da war.
Immerhin: Mit leichtem Gepäck gehen
wir los. Was war, liegt bei Gott. In seinem Frieden haben wir es
abgelegt. Dort ist es gut aufgehoben.
Und solange im Rücken keine Last
drückt, sind wir frei, uns umzuschauen. Uns zu bücken und die
Steine aufzuheben, die dort liegen. Und uns zu strecken, um uns die
Sterne vom Himmel zu holen.
Dann und wann werden wir außer uns
geraten. Weil es um uns glitzert und strahlt, bunt und schön. Und
hier und da werden wir alle guten Vorsätze vergessen, weil wir
stolpern und uns die Knie aufstoßen.
Dann sind wir mitten auf dem Weg, den
unverhofft der Friede kreuzt, leicht und bunt wie ein Schmetterling.
Erst folgen wir ihm mit den Augen. Dann gehen, laufen, springen wir
ihm nach.
Suche den Frieden und jage ihm nach.
Er wird dich finden.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen