Heilschwangere Zeit
Es
ist Advent. Ankunft heißt das. Warten auf die Ankunft. Als gingen
wir schwanger.
Maria
geht schwanger. Drei, vier Wochen hat sie noch. Dann kommt das Kind.
Sie
ist gespannt. Wortwörtlich. Der Bauch spannt. Das ist manchmal
unangenehm. Es schränkt sie ein in dem, was sie tun will und tun
soll. Mal schnell bücken – das geht nicht.
Aber
es freut sie auch. Weil sie so merkt, dass etwas in ihr wächst. Dass
etwas in ihr lebt. Setzt sie sich hin und ruht sich aus, bewegt sich
das Leben in ihr.
Das
Leben tritt und boxt von innen gegen die Bauchdecke. Und sie legt die
Hand auf den Bauch und versucht es zu fassen. Das Händchen. Das
Füßchen. Das Leben.
Sie
versucht sich vorzustellen, wie es wohl aussieht, wenn es ankommt in
dieser Welt. Wie sie sich anfühlen: das Händchen, das Füßchen,
das Leben. Und wie es riecht.
Bei
der Freundin in der Nachbarschaft, da hatte sie ein Baby auf dem Arm.
Weich, zerbrechlich. Und stark schon, wenn es die kleinen Arme
anspannte und die Beine und meckerte.
Von
ihrer Freundin weiß sie auch, was geschieht, wenn das Leben ankommt.
Sie hat ihr erzählt von den Schmerzen, die in Wellen kommen. Die sie
am Anfang noch wegatmen kann.
Aber
irgendwann hört das auf. Irgendwann hört das alles auf. Da ist nur
noch das Leben, das hinaus will aus dem Bauch in die Welt. Es drückt
und es zieht. Alles Denken hört auf.
Dann
ist es da, das Leben. Es schreit. Es ist warm. Es sucht die Brust.
Glück mischt sich mit Müdigkeit, Erschöpfung mit Freude.
Und
dann ist es da, das Leben. Aber welches Leben? Maria weiß nichts.
„So wie dein Bauch aussieht, wird es ein Junge“, sagt ihre
Mutter.
Maria
versucht, den Jungen vor sich zu sehen. Wie sie ihn an die Brust legt
und wickelt. Wie er anfängt zu krabbeln und zu brabbeln. Wie er die
ersten Schritte auf sie zuläuft und sie ihn in die Arme schließt.
Die
Vorfreude macht ihren Bauch ganz warm. Die Augen glänzen. Ein Leben,
das aus ihr kommt. Ein Leben, das zu ihr gehört.
Zugleich
schwindelt ihr. Sie weiß nichts von dem Leben, das zu ihr kommt.
Welches Wort wird das Kind zuerst sprechen? Wird es gerne bauen oder
singen? Wird es die Menschen fürchten oder ihnen vertrauen?
Maria
spürt wieder, wie unruhig sie ist. Jeden Tag ein wenig mehr. Mit
jedem Tag rückt der Tag näher, an dem das Leben kommt. Mit jedem
Tag ist es sicherer, dass es kommt.
Und
mit jedem Tag weiß sie weniger, wer da kommt. Mit jedem Tag steigen
in ihr mehr Bilder auf, wie es sein könnte. So oder so oder auch
ganz anders.
Das
Leben, das da kommt, es ist größer und weiter, als sie sich
vorstellen kann. Aber es kommt. Kaum vorzustellen.
Es
ist Advent. Ankunft heißt das. Warten auf die Ankunft. Als gingen
wir schwanger.
Jerusalem
geht schwanger. Drei, vier Tage noch, vielleicht auch sieben – dann
wird die Stadt wissen, was es mit ihm auf sich hat.
Er kommt. Jetzt gerade zieht er in die Stadt ein. Manche eilen ihm
entgegen. Andere warten lieber ab. Wer weiß, wie das ausgeht.
Wieder
andere ahnen nicht einmal, dass da einer kommt. Tief stecken sie in
ihrem Alltag. Und so oft ist in diesen verrückten Zeiten in dieser
verrückten Stadt etwas los.
Er
kommt. Und sein Ruf ist ihm ihm vorausgeeilt. In Jericho, heißt es,
heilte er zwei Blinde. „Herr, du Sohn Davids, hab Erbarmen mit
uns!“, riefen sie. Und er hatte Mitleid mit ihnen und berührte
ihre Augen und sie konnten sehen.
Und
es wird erzählt, dass ihn unterwegs einer fragte, was er Gutes tun muss, um das ewige Leben zu bekommen. Und er antwortete: "Wenn du
vollkommen sein willst, geh los, verkaufe deinen Besitz und gib das
Geld den Armen.“
Auch
das wird erzählt: An einem anderen Tag brachten einige Leute Kinder
zu ihm. Und er sagte: „Für Menschen wie sie ist das Himmelreich
da.“ Und er legte den Kindern die Hände auf und segnete sie.
Sein
Ruf ist ihm vorausgeeilt. Und das Rufen vieler Menschen eilt ihm
voraus. „Hosanna dem Sohn Davids! Stimmt ein in unser Loblied auf
den, der im Namen des Herrn kommt! Hosanna in himmlischer Höhe!“
Und
die Menschen, die ihm entgegen gezogen sind, und die Freunde, die
schon lange mit ihm ziehen, sie laufen ihm voraus. Sie breiten ihre
Mäntel als Teppich auf der Straße aus. Andere brechen Zweige von
den Bäumen ab und legen sie ebenfalls auf die Straße.
Er
kommt. In diesem Augenblick zieht er in die Stadt ein. Wie ein König,
der keiner sein will, aber einer sein soll.
Die
Leute fragen sich: „Wer ist er nur?“ „Das ist Jesus, der
Prophet aus Nazaret in Galiläa“, lautet die Antwort.
Sie
ist nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte der Wahrheit liegt in
dem verborgen, was die Menschen am Wegesrand hoffen, und auch in dem,
was sie fürchten.
Dass
alles immer bleibt, wie es ist, fürchten sie. Die Mächtigen hoch zu
Ross, die die Kleinen in den Staub treten. Die Reichen, die das Geld
anhäufen, indem sie es den Armen mit magnetischen Händen aus der
Tasche ziehen.
Dass
es doch endlich anders wird, hoffen sie. Jubeln wollen sie, weil sie
einer befreit von denen, die die Spielregeln aufstellen. Einer, der
die Spielregeln zu ihre Gunsten verändert.
Unrecht
soll sich in Recht verwandeln. Armut in Auskommen. Segen soll es
nicht nur für wenige geben. Segen soll für alle im Übermaß da
sein.
Einer
muss dafür sorgen. Er muss dafür sorgen. Jesus, der Prophet aus
Nazaret in Galiläa. Der König, der einer sein soll, aber keiner
sein will.
Sie
laufen ihm entgegen, sie ziehen mit ihm. Sie rufen ihn zum König
aus. Und ahnen nicht, was sie damit herauf beschwören.
König
der Juden, so steht es am Ende auf einem Schild, das Soldaten über
ihm anbringen. Am Kreuz, an dem er hingerichtet wird.
Aber
noch ist es nicht so weit. Noch geht er nicht. Jetzt kommt er. Zieht
ein in das, was Menschen fürchten und hoffen. Und doch ganz anders
als das, was sie hoffen und fürchten.
Es
ist Advent. Ankunft heißt das. Warten auf die Ankunft. Als gingen
wir schwanger.
Ich
gehe schwanger. Drei Wochen und einen Tag
gehe ich schwanger durch den Advent.
Ich
gehe schwanger wie es die Menschen in Jerusalem tun. Schwanger mit
dem, was ich fürchte und was ich hoffe. So wie ich es im Rest des
Jahres tue.
Nur
jetzt, im Advent, spüre ich es stärker. Weil Advent ja heißt, dass
einer kommt. Einer kommt, der verspricht: Es kann alles ganz anders
werden.
Also
spüre ich stärker als sonst, was ich fürchte. All das, was schief
gehen kann und schief geht zwischen Menschen, den nahen wie den
fernen.
Worte,
die verletzen. Gesten, die ich nicht wieder zurückholen kann.
Gräben, die ich aufgerissen habe und an denen ich jetzt stehe und
warte, dass andere sie wieder zuschütten.
Ich
spüre stärker als sonst, was ich fürchte. Zugleich ist das was ich
hoffe, größer in mir. All das, was sich zusammenfügt. Ein Puzzle
aus vielen kleinen Teilen, das plötzlich zu einem Ganzen wird.
Ein
Augenpaar, das mich anschaut und in dem für einen Augenblick die
Ewigkeit aufblitzt. Tief und still und klar. Eine Antwort, die sich
auftut, wo vorher gar keine Frage war.
Da
bleibt meine Welt dieselbe und wird eine andere. Weil ich schwanger
gehe und auf den einen warte, der kommt. Zu mir kommt. Auch zu mir.
Ich
gehe schwanger, wie Maria es tut. Schwanger mit einem, den ich schon
längst und lange in mir spüre.
Der,
der kommt, ist ja schon da. In mir. Bei mir. Auch wenn er alle Jahre
wieder kommt, ist er ja zwischendurch nicht weg. Sondern gleich
bleibend da.
Nur
dass er sich jetzt im Advent womöglich stärker in mir regt. Ich
kann seine Ärmchen und Beinchen spüren. Leben, das sich regt.
Unterm Herzen. Im Herzen.
Mit
ihm regen sich die Fragen, die immer da sind: Wer er wohl ist. So nah
er mir ist, so fremd bleibt er mir auch. Weiter als das Leben ist er.
Wenn
ich meine, ihn festhalten zu können, entzieht er sich. Und dort, wo
ich meine, ihn verloren zu haben, zeigt er sich. Immer anders, als
ich ihn erwarte. Und doch verlässlich gleich bleibend.
Es
ist Advent. Ankunft heißt das. Warten auf die Ankunft. Als gingen
wir schwanger.
Wir gehen schwanger. Der
Advent ist heilschwangere Zeit. 23 Tage, die Heil in sich bergen.
Und
wir sind heilschwangere Menschen. Das Heil, nach dem wir uns sehnen –
wir tragen es schon in uns.
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