Geteilte Gnade

Zuerst der Text. Aus dem Brief, den Paulus an die Gemeinde in Rom geschrieben hat. Worte eines jüdischen Schriftgelehrten, der zum christlichen Gemeindegründer wurde. Der sich deshalb immer wieder Gedanken darüber machte, wie jüdischer Glaube und christlicher Glaube zueinander stehen. Und was Gott sich bei dem allen wohl denkt.
Paulus reiht dazu einen Satz an den anderen. Da ist es vielleicht gut, sich nur einen herauszugreifen.

Brüder und Schwestern,
ich will euch über folgendes Geheimnis nicht in Unkenntnis lassen. Denn ihr sollt euch nicht selbst einen Reim auf die Sache machen:
Tatsächlich hat Gott dafür gesorgt, dass sich ein Teil von Israel vor ihm verschließt. Das soll aber nur so lange dauern, bis alle heidnischen Völker sich ihm zugewandt haben. Und auf diese Weise wird schließlich ganz Israel gerettet werden.
Betrachtet man es von der Guten Nachricht her, dann sind die vom Volk Israel Gottes Feinde geworden. Und das kommt euch zugute.
Betrachtet man es aber von daher, dass Gott sie erwählt hat, dann bleiben sie von Gott geliebt. Es waren ja ihre Vorfahren, die er einst erwählt hat.
Denn was Gott aus Gnade geschenkt hat, das nimmt er nicht zurück. Und wen er einmal berufen hat, der bleibt es.
Früher habt ihr Heiden Gott nicht gehorcht. Aber weil die Juden ungehorsam waren, hat Gott jetzt euch sein Erbarmen geschenkt.
Und genauso gehorchen sie jetzt Gott nicht, weil er euch sein Erbarmen geschenkt hat. Und dadurch werden künftig auch sie sein Erbarmen finden.
Denn Gott hat alle im Ungehorsam vereint, weil er allen sein Erbarmen schenken will.

"Ihr sollt euch nicht selbst einen Reim auf die Sache machen", schreibt Paulus. Wir tun es trotzdem. Mit einem Umweg.
Der beginnt bei unseren drei Kindern. Menschen, die nicht zu unserer Familie gehören, die sagen: Das sieht man, dass sie Geschwister sind. Die sehen sich sehr ähnlich.
Wir wissen natürlich, dass sie Geschwister sind. Und wenn wir uns Babyfotos anschauen, müssen wir manchmal nachdenken, wen sie zeigen. Dennoch: Unsere Kinder sehen unterschiedlich aus und sind erst recht sehr verschieden.
Vielleicht verhält sich das so: Wer von außen auf eine Familie schaut, der sieht vor allem, worin die Menschen sich ähneln, was sie gemeinsam haben.
Wer aber zu dieser Familie gehört, der sieht vor allem die Unterschiede, der sieht, was jeden für sich auszeichnet und in jedem Fall einzigartig macht.
Was uns wieder zu der Sache bringt, von der Paulus schreibt: Wir stellen uns vor, dass es diese Familienähnlichkeit auch bei den Kindern Gottes gibt – bei den jüdischen und den christlichen. (Über die anderen denken wir heute nicht nach.)
Mit der Familienähnlichkeit der Kinder Gottes gibt es auch dieses Phänomen: Wenn man dazugehört, sieht man die Unterschiede, das, was trennt. Wenn man von außen schaut, sieht man das, was verbindet, das Gemeinsame.
Paulus gehört dazu, zu den Kindern Gottes. Er ist berufen zum christlichen Gemeindegründer. Also sieht er die Unterschiede zwischen den christlichen und den jüdischen Kindern Gottes.
Er sagt es mit einem schrecklichen Wort: Weil ihnen Jesus ein Ärgernis war, sind die jüdischen Kinder Gottes zu Gottes Feinden geworden. Ein Wort, das durch die Jahrhunderte hindurch mörderische Folgen hat.
Der Hass überhörte, was Paulus einen Atemzug später auch sagt: Die jüdischen Kinder Gottes sind und bleiben von Gott geliebt. Ohne Wenn und Aber.
Paulus sagt das, weil er das ja auch ist: ein jüdisches Kind Gottes, ein jüdischer Schriftgelehrter. Und das bleibt er auch noch, als er gewissermaßen noch einmal adoptiert wird als christliches Kind Gottes.
Weil er beides ist, kann er einen Schritt zurücktreten und sich die Familie von außen anschauen. So sieht er das, was den aus der Nähe so verschiedenen Kindern gemeinsam ist.
Er sagt: Sie sind und werden alle ungehorsam, die Kinder. Die einen früher, die anderen später. Sie alle gehorchen Gott nicht.
Sie wenden sich von Gott ab und gehen ihrer Wege. Aus Trotz versuchen sie, ihres eigenen Glückes Schmied zu sein. Aus Sehnsucht versuchen sie, sämtliche Grenzen zu übertreten. 
Und er sagt: Wir brauchen es alle, dass Gott sich unser erbarmt. So, dass wir es merken. Weil uns das Herz leicht wird und der Atem weit. Weil wir uns aufrichten und fest stehen.
Wir brauchen es, dass Gott uns etwas schenkt, was wir uns selber nicht geben können. Aber wir brauchen es nicht nur. Wir haben das Geschenk ja schon längst bekommen.
Gnade, so heißt dieses Geschenk. Gnade, das ist wie ein kühler Sommermorgen mit Nebel über den Fennen. Wie ein Sternenhimmel, in dem die Perseiden aufleuchten.
Gnade, das ist wie ein Kind, das dich anstrahlt. Wie Menschen, mit denen du tief und herzlich lachen musst. Und vielleicht auch wie ein 8 zu 2 deiner Lieblingsmannschaft.
Gnade, das ist das Gefühl, dass Gott dich freundlich anschaut. Nicht weil du etwas getan oder gelassen hast. Sondern allein, weil er das so will. Und weil du sein Kind bist.
Von dieser Gnade leben wir, leben sie. Die christlichen Kinder Gottes und die jüdischen Kinder Gottes. Und die anderen Kinder auch. Sie alle, wir alle sind Kinder seiner Gnade.
Da sind wir am Ende bei dem Satz, den wir uns ausgesucht haben: „Und was Gott aus Gnade geschenkt hat, das nimmt er nicht zurück.“ Weder bei den einen noch bei den anderen.
Denn geschenkt ist geschenkt. Der Rest könnte Freude sein. Die geteilte Freude aller Kinder Gottes. Und geteilte Freude …

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