Sie stehen von ferne


Und es begab sich, als Jesus nach Jerusalem wanderte, dass er durch das Gebiet zwischen Samarien und Galiläa zog.

Und als er in ein Dorf kam, begegneten ihm zehn aussätzige Männer; die standen von ferne und erhoben ihre Stimme und sprachen: Jesus, lieber Meister, erbarme dich unser!

Und da er sie sah, sprach er zu ihnen: Geht hin und zeigt euch den Priestern!

Und es geschah, als sie hingingen, da wurden sie rein.

Einer aber unter ihnen, als er sah, dass er gesund geworden war, kehrte er um und pries Gott mit lauter Stimme und fiel nieder auf sein Angesicht zu Jesu Füßen und dankte ihm. Und das war ein Samariter.

Jesus aber antwortete und sprach: Sind nicht die zehn rein geworden? Wo sind aber die neun? Hat sich sonst keiner gefunden, der wieder umkehrte, um Gott die Ehre zu geben, als nur dieser Fremde?

Und er sprach zu ihm: Steh auf, geh hin; dein Glaube hat dir geholfen.

Wir schauen auf die Geschichte von den zehn Männern und Jesus und dem einen Samariter: Wo ist in dieser Geschichte das Heilige?

Als erstes sehen wir die zehn Männer. „Die standen von ferne“, heißt es über sie. Sie haben Aussatz. Medizinisch ist es womöglich Lepra, vielleicht auch Schuppenflechte.

Gesellschaftlich sind sie in jedem Fall aussätzig, oder besser: ausgesetzt. Sie müssen außerhalb des Dorfes leben, getrennt von der Gemeinschaft.

Das ist medizinisch sinnvoll. Wenn sie andere berühren, stecken sie andere an. Wenn sie ausgesondert werden, wird auch die Krankheit abgesondert.

Das ist gesellschaftlich verheerend. Für die Kranken, die getrennt werden von den Menschen, die sie lieben. Sie werden herausgenommen aus ihrem Alltag. Sie werden dazu verurteilt, die Tage mit Warten zu verbringen.

Das ist auch verheerend für die Gemeinschaft, die ausgrenzt. Die Ausgesetzten sind unrein. Wer sie berührt, macht sich schmutzig. Zumindest im übertragenen Sinn.

Wer in diesen Tagen im Verdacht steht, sich mit dem Coronavirus angesteckt zu haben, der kommt in Quarantäne. Das ist medizinisch sinnvoll. So kann zumindest in diesem Fall verhindert werden, dass das Virus weitergetragen wird.

Wer in diesen Tagen auf das Virus getestet wird, der kann aber auch erleben, wie es ist, wie ein Aussätziger behandelt zu werden: Von den Gesunden gemieden und beschimpft.

„Die standen von ferne“. Die zehn Männer stehen in der Ferne, weil sie dort stehen müssen. Aber eigentlich wollen sie dort nicht stehen. Eigentlich wollen sie fort aus der Ferne.

Dort, wo sie sind, ist es kaum auszuhalten. Dort, wo die anderen sind, ist es besser, viel besser. Wenn sie könnten, wenn sie dürften, würden sie nah kommen.

Aber sie dürfen nicht. Sie sitzen in Lagern fest. 13.000 dort, wo eigentlich nur 3.000 untergebracht werden sollten. Jetzt gibt es das Lager nicht mehr. Aber die Menschen sind noch da.

Neue Lager sollen gebaut werden. Damit die Menschen weiter von ferne stehen bleiben. Als wären sie unrein vom Krieg, vor dem sie flohen, und schmutzig von der Armut, unter der sie leiden. Als könnte man sich bei ihnen anstecken.

„Jesus, lieber Meister, erbarme dich unser!“ - - -

Wir sehen als nächstes auf Jesus. Der sieht die Männer und schickt sie fort.

Er schickt sie zu den Priestern. Die müssen darüber entscheiden, ob einer rein ist oder unrein. Ob einer aus der Gemeinschaft ausgesetzt oder in sie aufgenommen wird.

Gemeinschaft, das meinte damals nicht nur die Gemeinschaft mit anderen Menschen. Sondern auch die Gemeinschaft mit Gott.

Wer den Menschen nicht nahe kommen durfte, der konnte auch nicht zu Gott kommen. Wer nicht zu Gott gehörte, der konnte auch nicht zur Gemeinschaft gehören.

Jesus bricht das auf. Er ist für die zehn Männer so etwas wie das Pestfenster von St. Johannis. Er ist die Bresche in der Mauer, die sie von der Gemeinschaft und von Gott trennt.

Wir versuchen uns vorzustellen, wie hier bis ins 16. Jahrhundert hinein tatsächlich Menschen außerhalb der Kirche vor dem Pestfenster standen.

Von dort schauten sie auf den Altar und hörten die Gesänge des Priesters. Sie blieben außerhalb der Kirchenmauern, in denen die Gemeinschaft feierte.

Doch als Fenstergäste feierten sie das Abendmahl mit. Sie bekamen die Hostie durch das Fenster hinausgereicht und schmeckten, wie freundlich der Herr zu ihnen ist, durch alle Mauern hindurch.

Und weil sie wie alle vom Brot des Lebens aßen, gehörten sie über alle Mauern hinweg weiter zur Gemeinschaft dazu. Sie gehörten weiter zu Gott und also weiter zu den anderen.

Jesus ist so etwas wie das Pestfenster. Eine Bresche in der Mauer, die Menschen errichten, um die Gemeinschaft rein zu halten und die auszuschließen, die sie für unrein halten.

Jesus wendet sich den zehn Männern zu. Gott wendet sich den Menschen zu, die von ferne stehen. Denen, die aus der Gemeinschaft ausgesetzt werden.

Sie gehören weiter zur Gemeinschaft dazu. Die Menschen, die in die Quarantäne geschickt werden, die auch dann gemieden werden, wenn sie wieder gesund sind oder den Virus gar nicht in sich getragen haben.

Sie gehören weiter zur Gemeinschaft dazu. Die Menschen, die jetzt auf Lesbos im Schmutz auf der Straße schlafen, noch nicht einmal ein Blechdach über dem Kopf, ohne regelmäßiges Essen, ohne Möglichkeit sich zu waschen.

Jesus schickt die Männer zurück in die Gemeinschaft, zurück in ihr Leben. Sie sollen wieder dazugehören. Sie sollen ihr Leben wiederhaben.

Sie alle gehören zu Gott. Also gehören sie auch in die Gemeinschaft. Und die Gemeinschaft muss sich um sie kümmern.

Wir sehen auf den einen Samariter. Er ist der einzige, der umkehrt, als er sieht, dass er gesund geworden ist.

Wir könnten den neun anderen nachschauen: Wo sind sie geblieben? Ihre Spuren verlieren sich irgendwo auf dem Weg zum Priester, zwischen den Spuren anderer Menschen.

Schnell sind sie zurück in ihrem alten Leben. Lang genug war der Alltag unterbrochen. Jetzt nehmen sie ihn wieder auf, als wäre er nie unterbrochen gewesen.

Aber wer will ihnen das verdenken? Wenn einer dafür dankt, dass der Schmerz vorüber ist, dann weckt er gleichzeitig noch einmal den Schmerz.

Wenn einer sich freut, dass er wieder dazu gehört, dann will er nicht sich selber und auch nicht andere daran erinnern, dass er vor kurzem noch nur von ferne stand.

Der Samariter hält das aus. Der bewahrt den Schmerz, den er gefühlt hat. Gut versteckt vielleicht vor anderen, aber wie etwas Kostbares, das zu ihm gehört.

Und der trägt auch das Gefühl weiter, wie es ist, ausgesetzt zu sein und nicht dazuzugehören. Der bleibt ein Fremder zwischen lauter Bekannten. Vielleicht auch im eigenen Leben.

Sein Glaube hilft ihm, das zu tun. Vielleicht ist das gerade sein Glaube: Es ist ein Geschenk, vom Schmerz befreit zu werden. Es ist etwas Wichtiges, zu einer Gemeinschaft dazuzugehören. Es ist ein Segen, das Leben.

Vielleicht hilft das auch der Gemeinschaft: Wenn sie sieht, dass einer, der von ferne steht, ihr etwas mitbringt, wenn sie ihn nahe kommen lässt. Etwas, das ihr ohne ihn fehlen würde.

Die Gesunden brauchen die Erfahrung, wie es ist, krank zu sein und ausgeschlossen vom alltäglichen Leben. Das können sie nur dann lernen, wenn sie sich den Kranken zuwenden.

Und die, die im Frieden leben, brauchen die Erfahrung, wie es ist, unbehaust zu sein. Das können sie nur dann lernen, wenn sie die aufnehmen, die sonst ohne Zuflucht sind.

Beim Pestfenster ist das gewöhnlich so: Wenn ich von außen nach innen blicke, schaue ich auf das Heilige.

Für das Pestfenster von St. Johannis finden wir ja den Blick von innen nach außen spannender. Es ergeben sich so jedenfalls die schöneren Fotos. Was, wenn es auch im richtigen Leben so ist: Das Heilige befindet sich außerhalb der Mauern?

Dann ist Gott dort zu finden: In der angeordneten Quarantäne und im gesellschaftlichen Abseits. Zwischen den schmutzigen Decken und auf der Flucht.

Das Heilige, das finden wir dann bei denen, die von ferne stehen. Sie öffnen den Blick aufs Heilige. 

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