Ein weißes Blatt

Gott fängt an. Er nimmt sich ein weißes Blatt und und legt es vor sich hin. Er greift nach dem Stift. Er rückt das Blatt zurecht. Er schreibt.

Seht, es werden Tage kommen – Spruch des Herrn –, in denen ich mit dem Haus Israel und dem Haus Juda einen neuen Bund schließen werde;
nicht wie der Bund war, den ich mit ihren Vätern geschlossen habe, als ich sie bei der Hand nahm, um sie aus Ägypten herauszuführen. Diesen meinen Bund haben sie gebrochen, obwohl ich ihr Gebieter war – Spruch des Herrn.
Das wird der Bund sein, den ich nach diesen Tagen mit dem Haus Israel schließe – Spruch des Herrn: Ich lege mein Gesetz in sie hinein und schreibe es auf ihr Herz. Ich werde ihr Gott sein und sie werden mein Volk sein.
 Keiner wird mehr den andern belehren, man wird nicht zueinander sagen: Erkennt den Herrn!, sondern sie alle, Klein und Groß, werden mich erkennen – Spruch des Herrn. Denn ich verzeihe ihnen die Schuld, an ihre Sünde denke ich nicht mehr.
(Jeremia 31,31-34 -- Einheitsübersetzung )

Gott fängt an. Er nimmt sich noch ein Blatt Papier. „Der neue Bund“ setzt er als Überschrift an den oberen Rand.
Er denkt an die Menschen, denen er schreibt. An seine Menschen. Sie brauchen einen neuen Bund.
Fern von der Heimat sitzen sie. Kriegsverlierer sind sie. Sie dachten sie seien stärker, als sie waren. Unabsteigbar für immer.
Krachend haben sie verloren gegen den großen König. Verloren haben sie ihre Heimat. Und ihren Glauben.
Wie sollen sie glauben, entwurzelt, fern von den heiligen Orten zuhause?
Verloren haben sie ihre Freiheit. Tun und lassen, was sie wollten – so lebten sie. Ohne Rücksicht auf Verluste anderer. Ohne Rücksicht auf die Folgen, die jedes Tun oder Lassen hat.
Die Folgen aber holten sie ein. Und sie mussten folgen. Dem fremden König und seinen Soldaten in die Gefangenschaft. Als Gefangene, die den Regeln folgen, die andere ihnen vorschreiben.
Wer in der Fremde lebt, soll sich anpassen, sagen die Sieger. Der darf nicht nach seinen Regeln leben.

Gott fängt an. Er sieht auf das weiße Blatt, auf der immer noch nur die Überschrift steht: Der neue Bund.
Auch er braucht ihn, den neuen Bund. Um den Bund zu retten, den er mit ihnen, seinen Menschen, einst geschlossen hat. Damals, als er sie bei der Hand nahm.
Aus Ägyptenland hat er sie herausgeführt. Aus der Gefangenschaft in die Freiheit, so ging der Weg damals.
Schon in der Wüste erschien ihnen die Freiheit staubtrocken. Wovon sollten sie leben in der Freiheit, schrien sie. Und er gab ihnen zu essen und zu trinken. Erst kommt das Fressen, dann die Moral.
Er gab ihnen Regeln für ihre Freiheit. Hineingeschlagen in steinerne Tafeln. Zehn Mal: Du sollst.
Doch das schien ihnen so lebensfern. Sie wollten nicht sollen. Sie mussten wollen.
Sie tanzten lieber um das Goldene Kalb. Sie folgten lieber ihrer Lust als seinem Werben.
Sie suchten lieber ihren Spaß statt dem, was anderen half und ihn ehrte.
Er hielt an ihnen fest. Er hielt sie fest und nahm sie bei der Hand und führte sie in das Land, das ihre Heimat wurde. Er gab ihnen Richter, die für Recht sorgen sollten.
Er salbte ihnen Könige, die sie führte sollten. Er schickte ihnen Propheten, die sie auf dem richtigen Weg halten sollten. Manchmal gelang es, manchmal nicht.
Jetzt, am vorläufigen Ende, sind sie wieder gefangen. Wieder in der Fremde. Als wären sie im Kreis gewandert. Einmal aus der Sackgasse heraus und wieder hinein.
Der Bund ist gescheitert. Sie, seine Menschen, haben ihn gebrochen. Er braucht einen neuen Bund.

Gott fängt an. Er setzt den Stift an. Der „neue Bund“. Er weiß, wie er nicht aussehen soll: Kein äußerer Bund dieses Mal. Kein Bund, den er ihnen vor Augen stellt. Kein vernünftiger Bund.
Die Vernunft wägt ab. Ist es gut, ist es schlecht?, fragt sie. Ist es falsch, ist es richtig? Ist es wahr oder gelogen?
Dann dreht sie sich dreimal im Kreis um sich selbst und verliert jeden Anhalt. Was eben noch schlecht war, erscheint jetzt doch gut. Was eben noch als Lüge galt, beeidet jetzt die Wahrheit, nichts als die Wahrheit.
Richtig und falsch sind eine Frage des Standpunktes. Aber der Standpunkt steht nicht still, sondern bewegt sich ohne Unterlass.
Auf einmal ist alles gleichermaßen gültig. Und weil es das ist, wird falsch oder richtig gleichgültig.
Die einen zucken nur noch mit den Achseln. So ist das eben. Die anderen schlagen sich ihre Wahrheiten und Lügen um die Ohren.
Weil keiner sich seiner Wahrheit wirklich sicher ist, zielt jeder auf den anderen, um ihn und seine Wahrheit zu zerstören. Am Ende bleibt keiner unbeschadet. Und die Wahrheit verliert.

Gott fängt an. Er legt den Stift hin. Er wird nicht auf Papier schreiben. Und auch nicht in Stein meißeln. Den neuen Bund schreibt er den Menschen in ihre Herzen.
Dorthin, wo das Leben schlägt, im Takt der Schöpfung. Wo Menschen lachen und weinen. Wo sie hassen und lieben, wo sie sich fürchten und trösten. Wo sie hoffen und zweifeln.
Dorthin, wo sie so lebendig sind, wie er sie geschaffen hat. Dorthin schreibt er ihnen den neuen Bund.
Man sieht nur mit dem Herzen gut. Auch ihn sehen sie, wenn sie ihn sehen, mit dem Herzen. Glauben ist eine Herzensangelegenheit.

Gott fängt an. Er sieht das weiße Blatt und doch schon das Bild fertig. Es schillert in Regenbogenfarben. Sie beginnen sich zu drehen und leuchten weißer als das weißeste Weiß.
Jeder Mensch trägt ihn im Herzen, den neuen Bund. Und also ihn, Gott. Er schreibt sich seinen Menschen geradewegs in die Herzen.
Und die Menschen werden sich gegenseitig in die Augen und in die Herzen sehen – und sie werden ihn erkennen.
Sehen sie einen anderen Menschen, werden sie ihn sehen. Ja, ihn. Auch das Herz des anderen trägt seinen Namen.
Also verbinden sich die Menschen von Herz zu Herz. Sie werden keine Worte mehr brauchen, um alles zu erklären, weil sie dann alles wissen.
Keiner, der einem anderen ihn, Gott, zeigen muss. Weil alle ihn kennen. Kein Streit, wer ihm nahe oder näher oder am nächsten kommt. Weil sie ihn alle im Herzen tragen und sich seine Nähe gegenseitig gönnen.

Gott fängt an. Er sieht das weiße Blatt und weiß, dass es schon einmal beschrieben war. Er verwendet es zum zweiten Mal.
Beim ersten Mal trug es eine andere Überschrift: Wo jetzt „der neue Bund“ steht, stand zuvor in Großbuchstaben „Sündenverzeichnis“.
In fein säuberlicher Handschrift reihte sich darunter Zeile an Zeile und Spalte an Spalte. Gefüllt nicht von ihm, sondern von den selbst ernannten Buchhaltern der Sünde.
Von denen, die andere auf das festlegen, was sie tun oder lassen. Die schreiben, weil sie dann bleiben. Wer über die Sünde bestimmen kann, begeht selber keine.
Aber so ist er ja nicht. Er ist kein Buchhalter der Schuld. Er ist ein Weltenerfinder, ein Menschenerschaffer.
Einer, der an der Welt leidet, wie sie ist. Weil sie nicht so ist, wie er sie gedacht und gemacht hat. Der an dem verzweifelt, was Menschen einander antun, weil sie das auch ihm antun.
Einer, der deswegen nach dem weißen Blatt greift, um für seine Welt einen neuen Bund zu entwerfen.
Einen Bund für eine Welt, die rechts und links und oben und unten nicht kennt und ohne wir und die anderen auskommt. Eine Welt, in der die Gegensätze versöhnt sind.
Also nimmt er das Schuldregister und verwandelt es in ein unbeschriebenes Blatt, auf das er obendrauf schreibt: Der neue Bund.

Gott fängt an. Er nimmt sich ein weißes Blatt und spitzt den Stift und schreibt.
Vielleicht tut er es morgen, vielleicht auch erst dann irgendwann. Aber dass er es tun wird, verändert die Welt schon heute Morgen.
Ich schaue die Welt an, wie sie ist, und stelle mir vor: Wie beschrieben die Seiten auch sind: Für Gott sind sie weiß. Er fängt an mit seiner Welt, auch heute Morgen.
Jeder Tag verspricht einen neuen Bund.

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