Gott in die Welt holen

Seid mal leise. So sagen wir, wenn wir hier Kirche mit Kindern feiern. Seid mal ganz leise. Und hört hin. Hört ganz genau hin. Was ihr dann hören könnt, das sind Gebete.
Das sind die Gebete von den Menschen, die vor uns hier in der Kirche gewesen sind und gebetet haben. Seit 780 Jahren kommen Menschen hierher, um zu beten.

Donnerstag Abend, zum Beispiel, haben wir uns hier mit den angehenden Konfirmandinnen und Konfirmanden und ihren Eltern getroffen.
Wir haben ihnen gezeigt, wie Konfirmandenunterricht geht, indem wir einfach für eine Stunde Konfer gemacht haben. Dazu gehört das Beten.
Beten nämlich lernt sich nicht durchs Darüberreden, sondern übers Tun. Wir haben also gebetet und tun es jedes Mal im Konfer. Zweimal. Am Anfang und am Ende.
Am Anfang konnte jede und jeder eine Kerze anzünden oder einen Stein ablegen. Einen Stein, falls er etwas erlebt hat, was ihn traurig gemacht oder geärgert hat. Eine Kerze, falls ihr etwas begegnet ist, dass sie froh oder dankbar gestimmt hat.
Als alle Kerzen brannten und Steine lagen, haben wir gemeinsam den Psalm 23 gesprochen. Der ist dein Hirte. Er führt dich zum frischen Wasser. Sein Stecken und Stab trösten dich.
Am Ende haben wir auch gebetet. Kurze Gebete von kleinen grünen Kärtchen. Diese Kärtchen beschriften Besucher der Kirche. Mit Wünschen, die sie für sich selber haben. Mit Bitten, die sie für andere haben.
Die Karten legen die Besucher in den Gebetskasten hier im südlichen Querschiff. Wir haben den Kasten geleert.
Reihum haben wir die Karten vorgelesen. Mit den kleinen Freuden und den großen Sorgen. Wir haben sie Gott anvertraut: die Menschen, die uns fremd waren und sind, und ihre Anliegen, die unsere Herzen anrührten.
Wir haben sie Gott anvertraut. In dem Vertrauen, dass er ihre Anliegen durch seinen Segen wandelt. Vielleicht so, wie sie sich das wünschen. Vielleicht ganz anders.
Schließlich haben wir gemeinsam das Vaterunser gebetet. Worte, die so vertraut und so weit sind, dass in ihnen all das ausgesprochen wird, wofür wir keine eigenen Worte haben.

Paulus schreibt an die Gemeinde in Kolossa:
Hört nicht auf zu beten. Bleibt dabei stets wachsam und voller Dankbarkeit! (Kolosser 4,2)

„Unermüdlich, wie der Schimmer des Morgens um die Erde geht, ist immer ein Gebet und immer ein Loblied wach, das, Gott, vor dir steht.“ So singen wir gleich.
Ich finde das eine schöne Vorstellung. Immer steht, sitzt, kniet, liegt irgendwo irgendjemand und betet. Die Verbindung reißt nicht ab. Die Verbindung bleibt bestehen.
Jedes Gebet knüpft ein Band. Ein Band zwischen Menschen und Gott.
Das gilt für mich selbst. Solange ich bete, bleibe ich in Verbindung. Mit jedem Gebet knüpfe ich einen weiteren Faden in das Band, das mich mit Gott verbindet.
Bleibt wachsam, schreibt Paulus. Ja, wenn ich bete, bin ich wachsam. Ich achte auf das, was mich bewegt. Ich höre auf mein Herz, auf meinen Bauch. Auf das Hüpfen und Grummeln.
Ich unterbreche mein ständiges Tun und höre hin. Ich lausche dem nach, was ich erlebt habe, was mir begegnet ist. Ich vernehme das Echo, das meine ausgefüllten Tage in mir hervorrufen.
Bleibt voller Dankbarkeit, schreibt Paulus. Ich übertrage es mit: Betet und werdet dabei dankbar.
Nicht alles, was den lieben langen Tag über auf mich einströmt, macht mich dankbar. Manches klappt nicht, wie ich es mir vorgestellt habe. Anderes kommt hinzu, womit ich nicht gerechnet habe.
Und manchmal widerfährt mir etwas, das meinen Alltag und mich völlig durcheinander wirbelt. Ein Streit zieht mir den Boden unter den Füßen weg. Der Tod reißt eine Lücke in mein Leben.
Das zerrt an dem Band, das meine Gebete zu Gott geknüpft haben. Hier und da reißt ein Faden. Ich kenne Menschen, da ist das ganze Band gerissen. Was sie erlebten, konnten sie nicht in ein Gebet fassen.
Aber wenn es mir gelingt: Das, wofür ich keine Worte habe, Gott anzuvertrauen – dann kann es sich wandeln. Es wandelt sich in einen Faden, der sich um das Band zu Gott legt.
Und ich werde dankbar. Nicht für das, was ich erlebt habe. Der Streit treibt mich weiter um. Der Tod bleibt eine Wunde.
Aber ich werde dankbar, dass Gott mich hält. Dass das Band hält, das die Gebete mit Gott knüpfen.
Falls es mir nicht gelingt, Worte zu finden, kann ich versuchen mich fallen zu lassen. Ich stelle mir vor, dass all die Gebete, die sich zwischen den Menschen und Gott spannen, sich zu einem großen, festen Netz verknüpfen.
Wenn ich nicht beten kann, spricht immer jemand anders ein Gebet. Manchmal auch für mich, gerade und genau für mich.
Manche Menschen verbinden sich im Engelgebet: Sie verabreden sich einmal in der Woche. Persönlich oder auch über E-Mail. Eine erzählt, was sie bewegt. An Kleinem, Alltäglichem, an Großem, Außergewöhnlichem.
Die andere antwortet mit einem Gebet. So knüpft die andere für die eine an dem Band, das sie beide mit Gott verbindet. Und immer ist ein Loblied wach und steht vor Gott.

Paulus schreibt:
Betet gleichzeitig auch für uns, dass Gott uns eine Tür für das Wort öffnet. Dann können wir das Christusgeheimnis verkünden, für das ich in Haft bin!
Betet auch, dass ich es anderen so enthüllen kann, wie mein Verkündigungsauftrag es erfordert. (Kolosser 4,3-4)

Was beten wir eigentlich, wenn wir beten? Worum geht es mir, wenn ich bete?
Manchmal, wenn wir in einem Gottesdienst ein Kind taufen, bilden wir zum Abschluss einen Segenskreis. Jede und jeder, der im Kreis steht, kann dem Kind etwas wünschen.
Gesundheit, das ist das wichtigste, heißt es in der Runde. Dass du gute Freunde hast. Viel Erfolg. Dass du immer so zufrieden bist, wie du es jetzt bist.
Viele gute Wünsche bekommt das Kind mit auf den Weg. Und aus den Wünschen wird ein Gebet. Wir vertrauen sie Gott an: Gott, du hörst unsere Wünsche. Wir legen sie dir ans Herz. Wandle sie durch deinen Segen.
Beten knüpft ein Band zwischen Mensch und Gott. Auf der einen Seite steht der Mensch. Mit dem, was ihn freut und bedrückt. Mit dem, wofür er dankt und was er sich wünscht.
Auf der andere Seite ist Gott. Mit dem, was er macht aus dem Dank und den Bitten. Mit dem, wovon ich nichts weiß und was ich nicht beeinflussen kann.
An dem Band, das mein Gebet mit Gott knüpft, kann ich nicht ziehen. Nicht so, dass ich Gott dahin ziehen kann, wo ich ihn haben will.
Beten ist das Gegenteil von ziehen. Wenn ich bete, lasse ich los. Ich habe immer noch meine Wünsche, meine Anliegen. Aber ich lasse sie los.
Ich vertraue sie Gott an. Ich lege sie ihm ans Herz. Ich lege mein Leben und das Leben anderer in seine Hände. Ich bin gespannt, was er aus dem macht, was ich von ihm will.
[Neben Karl Marx hatte gestern auch Sören Kierkegaard Geburtstag, ein dänischer Theologe und Philosoph. Fünf Jahre älter ist er als Marx.]
Von Kierkegaard stammt der Satz: „Beten heißt nicht, sich selbst reden hören. Beten heißt still werden und still sein und warten, bis der Betende Gott hört.“
Manche reden so: Sie stellen eine Frage und warten gar nicht auf die Antwort, sondern plappern weiter drauflos. Und man hat Mühe, die Antwort anzubringen, die man auf die Frage geben wollte.
Man kann auch so beten: Anhaltend auf Gott einreden, ohne Atem zu holen, ohne hinzuhören auf die Antwort, die er geben will. Ja, es fällt schwer: Still auf die Antworten zu warten. Aber nur dann höre ich sie auch, wenn sie kommen.
Selbst wenn sie kommen und ich still bin, kann ich sie noch überhören. Weil sie so anders klingen, als ich sie erwartet und gewünscht habe.
Gottes Antwort ist ja Gottes Antwort. Und nicht meine. „Dein Wille geschehe“, beten wir im Vaterunser. Gut, wenn ich das ernst nehme in meinen Gebeten.
Ich schreibe meine Wünsche und Bitten auf ein grünes Kärtchen und lege es in den Gebetskasten. Andere lesen sie betend vor Gott. Und dann macht Gott etwas daraus.
Beten heißt auch das: Gott macht etwas daraus. Aus dem, was mich bewegt und umtreibt. Um Gottes willen.
Paulus hat das erkannt. Um offene Türen bittet er. Nicht, damit er aus dem Gefängnis heraus kommt. Sondern damit Gottes Wort hineinkommt in die Welt.
Um Worte bittet er, die andere Menschen berühren. Nicht, damit er viele Zuhörer und volle Häuser hat. Sondern damit andere Gottes Geheimnis entdecken.
Beim Beten geht es nicht nur um mich und auch nicht um andere Menschen, die mir am Herzen liegen. Wer betet, dem geht es auch um Gott.
Ich knüpfe ein Band zu Gott, Faden um Faden. So hole ich Gott in die Welt hinein. In den eigenen Alltag und in das Leben anderer Menschen.
Und Gott kommt und bringt seinen Segen mit. Und das verwandelt alles: Ein kleines Gebet nur, und Gott ist mittendrin in deinem Leben.

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