Mit den Händen zu greifen

Schau dir deine Hände einmal an, die linke und die rechte Hand, die Handflächen, die Handrücken, die Finger. Vielleicht beginnen deine Hände mit dir zu reden und erzählen dir Geschichten aus deinem Leben.
Mich erinnern alte Narben an einen Sturz beim Fußballtraining, als ich 14 Jahre alt war, und den Unfall mit meinem Motorroller drei oder vier Jahre später.
Deutlich spüre ich die Hornhaut am Mittelfinger der rechten Hand; sie kommt von den Stunden am Schreibtisch mit einem Stift in der Hand.
Nur selten schaue ich mir meine Hände bewusst an. Kleine Kinder tun das mit ausdauernder Neugie. Sie schauen ihren Fingern zu, wie die sich wie von Zauberhand bewegen.
Mit großer Begeisterung hauen sie mit ihren kleinen Händen auf den Tisch – eine Begeisterung, die sich noch steigert, sobald sie einen Löffel in der Hand und einen Teller in Reichweite haben.
Erst nach und nach lernen sie, ihre Hände einzusetzen, ohne sich über jeden Griff zu wundern. Und für uns Große ist es eine Freude, ihnen dabei zuzuschauen.
Mit den Kindern können wir dann noch einmal entdecken, was wir mit den Händen alles machen können.
Die kleinen Hände der Kinder ergreifen die Dinge der Welt. Zum Beispiel die Bausteine, die sie mit großer Sorgfalt und Geduld übereinander stapeln – um den Turm dann in einem Handstreich zum Einsturz zu bringen.
Mit den Händen begreifen die Kinder, begreifen wir die Welt: Wir bauen und reißen ein, wir tragen und lassen fallen, wir ergründen und streben hoch hinaus.
Die kleinen Hände der Kinder berühren auch Menschen. Zunächst fassen sie ihrem Gegenüber einfach ins Gesicht – greifen nach der Nase oder der Brille auf ihr.
Später lernen sie zu unterscheiden: das verärgerte Schlagen und das zärtliche Streicheln, das behutsame Trösten und das absichtliche Verletzen, das wütende Drohen und das sorgsame Befühlen.
Mit den Händen stellen die Kinder, stellen wir Beziehungen her: Wir zeigen anderen Hass und Liebe, Mitleid und Zorn, Ablehnung und Zuneigung.

Mit den Händen segnen wir auch. Eigentlich ist das eine alte Abschiedsgeste: Menschen, die sich auf eine Reise begeben, beim Aufbruch die Hände auf den Kopf zu legen.
Eine schöne Geste, die aus dem Alltag verschwunden ist. Vielleicht, weil sie noch mehr Nähe herstellt, als sich die Hand zu geben. Schon das ist den Föhrer Friesen ungewohnt.
Im Gottesdienst hat sich die Segensgeste bewahrt. Wenn wir die Hände Täuflingen oder Konfirmandinnen oder Paaren auflegen. Wenn wir beim Schlusssegen die Hände heben:

Der Herr segne dich und behüte dich, / der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig, / der Herr hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden.
(4. Mose 6,24-26)

Ausgestreckte Arme und aufgelegte Hände: Die Segensworte klingen nach viel mehr Gesten. Sie klingen nach einem ganzen segensreichen Spiel mit den Händen.

Der Herr segne dich und behüte dich.

Ich sehe die Hand, die eine Mutter ihrer Tochter auf den Kopf legt. Das Mädchen soll am Morgen in die Schule aufbrechen. Zum Abschied streicht die Mutter ihr über den Kopf von der Stirn bis in den Nacken.
Die Mutter muss in dieser zärtlichen Geste noch einmal ihre Liebe ausdrücken. Und falls sie es einmal vergisst, erinnert sie das Mädchen: Du musst mich noch streicheln. Es will noch einmal die Liebe spüren, der sie vertraut.
Ich sehe auch die Hand eines Jungen. Er hat einen Marienkäfer aufgesammelt. Behutsam hat er ihn über den Zeigefinger in die Handfläche krabbeln lassen.
Jetzt steht er vor seinem Vater und zeigt ihm den Käfer. Sieben Punkte hat er. Der Junge staunt und auch der Vater entdeckt das kindliche Staunen in sich wieder.
Der Käfer ordnet noch einmal die Flügel. Dann hebt er ab und fliegt davon. Sohn und Vater schauen ihm nach.
Segen, so stelle ich es mir vor, hat von beidem etwas. Wenn du gesegnet wirst, bekommst du Gottes Liebe mit auf den Weg. Damit du aufbrechen kannst in dein Leben, auf die Wegstrecke, die du an diesem Tag zurücklegen wirst.
Und du kannst dich an diesen Segen gewöhnen. So sehr, dass er dir fehlt, wenn du ihn nicht bekommst. Also bittest du jeden Tag darum, dass du ihn bekommst.
Segen erzählt auch etwas davon, wie du staunen kannst. Über das, was dir in deinem Leben begegnet. So klein und zerbrechlich vielleicht wie ein Marienkäfer. Und doch so groß und wunderbar wie eine ganze Schöpfung.
Du staunst über dein Leben und hältst es Gott hin. Und siehe: Gott staunt mit dir. Freut sich an dem, was dein Leben ist und reich macht.
Und nein: Es fliegt nicht davon. Es bleibt im Herzen. In deinem und in Gottes Herzen.

Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig.

Ich sehe eine Frau und einen Mann. Die Bibel erzählt von ihnen.
Die Frau haben Männer in den Straßenstaub geworfen. Sie haben sie beim Ehebruch erwischt. Jetzt soll sie gesteinigt werden.
Der Mann liegt auf einem Krankenbett. Schon Jahre, Jahrzehnte liegt er dort und wartet, dass er gesund wird. Laufen würde er gerne können.
Da sind die Frau und der Mann. Und da ist noch einer. Jesus. Der hockt neben der Frau und schreibt mit den Fingern im Staub. Der steht neben dem Mann und spricht ihn an: Willst du gesund werden?
Jesus schaut die Frau an. Jesus schaut den Mann an. Mit Augen, die strahlen wie das Leben. Ich verurteile dich nicht, sagt er der Frau. Geh und ändere dein Leben.
Er sieht den Mann. Steh auf, sagt er zu ihm. Nimm dein Bett und geh hin.
Und Jesus reicht der Frau die Hand und er reicht dem Mann die Hand. Und beide ergreifen die Hand und stehen auf und gehen. Hinaus in ihr neues Leben.
Segen, so stelle ich mir vor, hat auch davon etwas: Du kannst eine andere werden, du kannst dich ändern. Nichts muss bleiben, wie es ist. Immer kann etwas Neues anbrechen.
Segen ebnet dir einen Weg. In ihm hörst du, was Jesus der Frau, dem Mann sagt: Geh und ändere dein Leben. Lass hinter dir, was dich lähmt, und geh los in dein Leben.
Im Segen hörst du, dass Jesus dich nicht festlegt Du bist nicht der Menschen, von dem andere denken und auch du selbst, du seist nun einmal so. Aber du kannst auch ganz anders.
Der Segen macht dich frei. Weil er dir sagt: Gott schaut dich freundlich an. Wer du auch bist. Was du und andere auch von dir halten. Er reicht dir die Hand und du kannst aufstehen und losgehen.

Der Herr hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden.

Ich sehe Menschen, die stehen in einem Kreis. Es ist Zeit für den Abschied. Ein paar Tage sind sie einen gemeinsamen Weg gegangen. Jetzt trennen sich die Wege.
Jeder geht wieder nach Hause, in seinen Alltag. Was nimmt er mit aus diesen Tagen und der Gemeinschaft, die er erlebt hat? Was bleibt von dem, was sie an diesem Ort erlebt hat?
Die Frauen und Männer stehen im Kreis. Die linke Hand halten sie mit der Handfläche nach oben in die Mitte. Die rechte Hand legen sie sacht und fest zugleich auf die Schulter neben ihnen.
Die eine Hand kann sich füllen. Mit dem, was sich hineinlegt an Erfahrungen. Mit dem, was Gott hineinlegt. Die andere Hand gibt davon weiter. Von den gemeinsamen Erlebnissen. Von dem, was Gott gibt.
Der Kreis ist geschlossen. Jeder empfängt, jeder gibt weiter. Die Männer und Frauen sind verbunden. Untereinander und mit Gott. Sie werden es bleiben.
Segen, so stelle ich mir vor, ist auch das: Du findest ihn, wenn du mit anderen Menschen zusammenkommst und du dich mit ihnen verbindest. Ihr fragt und antwortet gemeinsam, ihr lacht und weint miteinander, ihr singt und betet.
Segen entsteht in der Gemeinschaft. Und er stiftet sie. Du spürst, wie ihr euch gegenseitig die Hände und Herzen füllt. Mit den Sorgen und den Freuden, die ihr untereinander teilt.
Und du spürst, wie daraus eine Kraft entsteht, die du an den einen weitergibst und von der anderen wieder empfängst. Segen überträgt sich zwischen euch, weil ihr euch berührt. Mit den Händen auf dem Rücken des Nachbarn und auf dem eigenen Rücken. Mit dem Geist, der euch verbindet.

Der Herr segne dich und behüte dich, / der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig, / der Herr hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden.

An die dreitausend Jahre alt sind diese Verse. Seit drei Jahrtausenden sprechen Menschen sie einander in Gottesdiensten zu. Und immer noch berühren sie.
Es sind kunstvolle Verse. Im hebräischen Original hat die erste Zeile drei Wörter, die zweite fünf und die dritte sieben. Mit den Wörtern wird gemalt: Immer weiter breitet sich der Segen aus, bis er uns ganz umschließt und wir mit unserem ganzen Leben in ihn eintauchen.
Er ist so dicht. Fast ist er mit den Händen zu greifen.

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