Eine Brücke

Ich sehe eine Brücke und die hängt über einer Schlucht. Es ist keine ganz lange Brücke und auch keine ganz tiefe Schlucht. Aber es ist eben doch eine Schlucht. Über Jahrtausende hat sie ein Gebirgsbach in den Fels gespült. Immer weiter und immer weiter hat er ihn weichgespült und ausgehöhlt.
Auch jetzt noch rauscht und tost der Bach am Grund der Schlucht. Mal lauter, mal leiser. Mal führt er mehr Wasser mit sich, mal weniger.
Die Brücke hängt über der Schlucht und dem Rauschen. Sie schaukelt und klappert, wenn du darauf trittst und Schritt für Schritt hinüber gehst.
Bist du ein Mutiger, kitzelt das Schaukeln angenehm im Bauch. Bist du ein Ängstlicher, bekommst du weiche Knie beim Blick nach unten.
Aber egal, ob du mutig oder ängstlich bist: Die Brücke bringt dich über die Schlucht auf die andere Seite.

Am Anfang war da keine Schlucht. Wohl standen die einen hier und die anderen dort. Doch wer wollte, konnte von hier nach dort und von drüben nach hüben gehen.
Da floss ein kleines Rinnsal aus Misstrauen zwischen den einen und anderen. Könnte es nicht sein, dass die anderen? Und vielleicht haben sie ja auch? Denen ist alles zuzutrauen.
Der Weg von hier nach dort wurde schwerer. Ein Graben grub sich zwischen die einen und die anderen. Wer hinüber wollte, musste einen großen Schritt tun.
Es ging ein Unwetter nieder, das mit einem Schlag den Bach zu einem reißenden Strom verwandelte. Alles Vertrauen riss er mit sich fort und fraß sich tief hinein zwischen die einen und die anderen.
Das Unwetter legte sich, die Fluten sanken. Es blieb eine Schlucht, über die keiner mehr kam. Zu weit, um zu springen, zu tief, um zu klettern.
Die Schlucht klaffte immer tiefer und breiter. Mit denen dort drüben hatte man nichts zu tun. Das war im übrigen schon immer so. Und es würde niemals anders sein.

Die Schlucht ist immer noch da. Aber nun ist da auch eine Brücke. Die führt jetzt von hier nach dort und von drüben nach hüben.
Irgendwann fragte einer bei den einen: Wieso ist da eigentlich diese Schlucht? Und eine von den anderen fragte neugierig: Wie sieht es wohl da drüben aus?
Sie standen auf beiden Seiten der Schlucht und schauten hinunter und hinüber. Da sahen sich die einen und die anderen und sahen nicht weg.
Sie erkannten sich wieder: Die einen in den anderen und die anderen in den einen. Sie riefen hinüber und zurück. Und sie sprachen dieselbe Sprache.
Da fingen sie an und bauten die Brücke von hier nach dort und von drüben nach hüben. Es ist eine wacklige Brücke.
Die einen mögen es, federnd über den Abgrund zu laufen. Die anderen schauen ängstlich in die Schlucht: Was wenn?
Aber die Brücke trägt die Menschen. Und sie trägt einen Namen. Heiliger Geist. So heißt sie.

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