Das Christkind kommt

Sie haben das sicherlich auch schon gehört. Zumindest dann, wenn sie von hier sind. Also: Letzten Donnerstag stand einer auf dem Markt, hier in Klütz.
Der quatschte einfach die Leute an. Und die Leute erschraken natürlich. Wer wird schon gern von einem Fremden angequatscht. Zumal dann, wenn er so aussieht, wie dieser Mann aussah: Eine blaue Daunenjacke, aus deren Nähten hier und da Daunen quollen. Eine dunkelgrüne Jeans, die – wie man so schön sagt – gestanden hätte, wenn er sie ausgezogen hätte. Aber es sieht so aus, als hätte er das schon lange nicht mehr gemacht. Zumindest kann er sich schon lange Zeit die Haare nicht mehr gewaschen haben. Ziemlich verfilzt sahen die aus. Und auch der Bart war ziemlich zersaust. Sie wissen schon, so ähnlich wie der Mann, der im Sommer hier immer mit den vielen Fahnen und Türen an seinem Fahrrad unterwegs ist. Aber der war’s nicht. Es war ein anderer.
Wie auch immer. Dieser Mann sprach jedenfalls einfach und wahllos die Menschen an. So weit ich das sehen konnte, wichen die immer erst einmal zurück und wollten weiter gehen. Aber irgendwie bekam er die Leute dazu, dass sie stehen blieben. Und dann sah es so aus, als würde er auf sie einreden. Und die Leute immer mal einen Satz antworten. Das ging dann so drei bis fünf Minuten. Und irgendwann lachte der Mann. Und die Leute lächelten. Und dann gingen sie weiter.

Ich hab’ dann einen, den ich kenne und der mit ihm gesprochen hat, angehalten. Wer das war, behalte ich mal für mich.
Den habe ich gefragt: „Sag’ mal, was wollte der denn?“ – „Wer?“ – „Na, der… Mann, der dich angesprochen hat!“ – „Ach der, der ist harmlos.“
„Und was wollte der?“ – „Der hat mir frohe Weihnachten gewünscht.“ – „Einfach so?“ – „Einfach so!“ – „Dafür habt ihr euch aber lange unterhalten.“ – „Ach was, wir haben uns doch nicht unterhalten. Der hat geredet.“ – „Und was hat der geredet?“ – „Willst du das wirklich wissen?“ – „Klar! Oder willst du’s nicht erzählen?“
„Warum sollte ich nicht wollen? Da ist nichts bei. Er wollte wissen, ob ich alle Geschenke besorgt habe.“ – „Und, hast du?“ – „Ja, nein. Ich natürlich nicht. Macht ja meine Frau. Aber die hat schon alles besorgt. Glaube ich. Ich hab’ da nicht so recht den Überblick.“ – „Und hast du für sie schon eins?“ – „Das hat mich der Typ auch gefragt.“ – „Und?“ – „Klar, hab’ ich, schon im November gekauft, als ich in Lübeck war. Eine neue Uhr. Hat sie sich gewünscht.“ – „Schön.“ – „Hat der andere auch gesagt.“ – „Und dann?“ – „Was: und dann?“ – „Was hat der andere dann gesagt. Er hat so gelacht.“ – „Ach so. Ja, dann hat er gefragt, ob ich schon an das Geschenk für das Christkind gedacht habe. Das würde ja Montag kommen.“ – „Was?“ – „Ja, das hat der gesagt: Am Montag kommt das Christkind zu dir. Das will auch ein Geschenk.“ – „Aber das bringt doch die Geschenke“ – „Hab ich ihm auch geantwortet. Und er darauf: Denk mal an die drei Weisen. Und dann hat er angefangen zu singen. Irgendwas mit ‚Ich stehe an der Krippe und bringe dir alles, was ich habe, Herz und Sinn’, oder so.“ – „Paul Gerhardt, sagte ich, und Bach: ‚Ich steh an deiner Krippen hier, o Jesu, du mein Leben; ich komme, bring und schenke dir, was du mir hast gegeben. Nimm hin, es ist mein Geist und Sinn, Herz, Seel und Mut, nimm alles hin und lass dir’s wohl gefallen.’ Das hat er gesungen? Passt irgendwie.“
Dann haben wir uns verabschiedet und ich bin weitergegangen.

Kurz hinter der Apotheke treffe ich eine Bekannte. Und die fragt mich gleich: „Na, kommst du auch vom Markt? Hast du da auch den Verrückten gesehen?“ Natürlich hatte ich den gesehen und ihr auch gleich entgegnet, was der andere mir gesagt hatte: „Der ist doch harmlos!“
Sie darauf: „Von wegen und harmlos. Angemacht hat der mich. Richtig angemacht!“ – „Echt? Wie das denn?“ – „Das fing ganz harmlos an, wie du sagst. Der wollte wissen, ob ich denn schon alles für Weihnachten vorbereitet habe.“ – „Und, hast du?“ – „Naja, fast. Der Baum ist da, die Gans liegt im Tiefkühler. Saubermachen muss ich noch mal, aber das mache ich erst, wenn wir am Montag den Baum aufgestellt haben. Da fällt mir ein: Ich muss noch die Kerzen besorgen.“ – „Und wie hat der dich nun angemacht?“ – „Na, dann hat der mich doch gefragt, ob ich mich denn schön gemacht hätte?“ – „Was?“ – „Ja, das hat der gefragt: Hast du dich denn schon schön gemacht? Am Montag kommt das Christkind zu dir!“ – „Und, was hast du gesagt?“ – „Gar nichts. Ich bin gegangen.“ – „Sachen gibt’s“ – „Aber es geht ja noch weiter.“ – „Ja? – „Der fing auch noch an zu singen!“ – „Das hab’ ich schon gehört: ‚Ich steh’ an deiner Krippen…’“ – „Nein, was anderes: ‚Bereite dich mit zärtlichem Trieb, dein Liebster will dich sehn! – oder so ähnlich.“ – „Bach“, habe ich gesagt, Weihnachtsoratorium. ‚Bereite dich, Zion, mit zärtlichen Trieben, den Schönsten, den Liebsten bald bei dir zu sehn.’ Lustig.“ – „Was soll daran lustig sein?! Zärtlicher Trieb, mein Liebster. Der bestimmt nicht.“ – „Aber er hat ja nicht von sich selber gesungen.“ – „Trotzdem. Irgendwie war mir das unangenehm.“
Sie hat noch mal energisch mit dem Kopf geschüttelt. Dann haben auch wir uns verabschiedet.

Und die Geschichte geht noch weiter. Ich bin nämlich am Nachmittag noch einmal auf den Markt gegangen und – Sie ahnen es – ich bin dabei dem Mann direkt in die Arme gelaufen.
„Tach, Herr Pastor“, sagte er zu mir. Ich wundere mich inzwischen nicht mehr, dass Leute, die ich nicht kenne, wissen, wer ich bin. „Guten Tag“, sagte also auch ich. „Ist die Weihnachtspredigt fertig?“, wollte er wissen. „Die für den Heiligen Abend ja, aber am ersten Weihnachtstag schreibe ich noch.“ – „Und kommt das Christkind drinne vor?“ „Klar“, sagte ich, „klar kommt das vor.“ „Dass Sie mir das nicht vergessen. Das ist wichtig, das Christkind.“ – „Nein, vergesse ich nicht.“
Er schien beruhigt und ich wollte schon weiter gehen. Da sagt er zu mir: „Kommt das Christkind eigentlich auch zu Ihnen?“ – „Nun, meinen Kindern erzähle ich, dass die Geschenke…“ – „Nein, ich will wissen, ob das Christkind zu Ihnen kommt?“ – „Na, ich weiß schon, dass meine Frau die Geschenke einpackt…“ – „Schade, Sie sind der Pastor und Sie warten nicht darauf, dass das Christkind zu Ihnen kommt? Aber Sie sind Heiligabend ja ohnehin nicht zu Hause.“
Und dann fängt er an zu singen: „Komm, o mein Heiland Jesu Christ, meins Herzen Tür die offen ist. Ach zieh mit deiner Gnade ein…“
So richtig lustig und harmlos fand ich ihn da nicht mehr. „Wer sind Sie eigentlich?“, fragte ich ihn. „Wieso sprechen Sie eigentlich alle Leute auf das Christkind an?“ – „Wer ich bin? Ich bin nicht das Christkind.“ – „Das habe ich mir schon gedacht.“ – „Und Pastor oder so was bin ich auch nicht.“ – „Das hätte ich auch nicht vermutet.“ – „Ich bin nur eine Stimme, die in der Wüste ertönt: 'Macht den Weg bereit für den Herrn!'"
„So, so – und womöglich heißen Sie auch noch Johannes.“ – „Genau, Herr Pastor, ich heiße Johannes. Woher wussten Sie das?“ „Naja, ich muss auch noch am vierten Advent predigen. Kommen Sie dann mal in den Gottesdienst. Dann wissen Sie, wie ich darauf komme.“ Dann bin ich gegangen.

Johannes 1,19-23 (Basisbibel)
Und so bezeugte Johannes, wer er selbst war: Aus Jerusalem sandten die jüdischen Behörden Priester und Leviten zu Johannes. Sie sollten ihn fragen: "Wer bist du eigentlich?" Er antwortete frei heraus und wahrheitsgemäß. Er bekannte: "Ich bin nicht der Christus." Da fragten sie ihn: "Wer dann? Bist du Elija?" Er sagte: "Nein, der bin ich nicht." "Bist du der erwartete Prophet?" Wieder antwortete er: "Nein." Sie fragten ihn weiter: "Wer bist du?
Wir müssen doch denen, die uns geschickt haben, Auskunft geben. Was sagst du selbst denn über dich?" Er antwortete: "Ich bin, was der Prophet Jesaja vorausgesagt hat: Die Stimme,
die in der Wüste ertönt: 'Macht den Weg bereit für den Herrn!'"

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Fortsetzung folgt

Dreifach Gott begegnen

Herr, sag uns, wie wir beten sollen