Er sitzt neben dir

Kennen Sie eigentlich den Menschen, der neben Ihnen sitzt? Manche von Ihnen werden den Kopf schütteln. Nein, kenne ich nicht, der Platz war halt noch frei.
Die meisten aber werden nicken. Klar kenne ich den. Mit dem bin ich verheiratet. Oder: Das ist mein Sohn. Das ist meine Schwester. Das ist mein Opa. Das ist meine Enkelin.
Und natürlich kennen Sie sich. Schließlich leben Sie ja zusammen oder sehen sich zumindest oft. Wenn ich Sie fragte, könnten Sie mir das Aussehen des anderen einigermaßen beschreiben, ohne ihn dabei vor sich haben zu müssen. Sie könnten mir auch erzählen, was sie gern hat und er überhaupt nicht mag. Wie sollten Sie sonst die richtigen Geschenke beim Weihnachtsmann in Auftrag gegeben?
Wenn wir uns die Zeit nähmen, würden Sie mir auch erzählen, dass sie immer vor dem Fernseher einschläft und er furchtbare Probleme beim Einparken mit dem Auto hat. Dass sie Stunden im Bad braucht und er immer so laute Musik hört. Und dass ihr Christstollen aber so was von lecker ist.
Ich fürchte, Sie wissen auch ziemlich gut, womit Sie den anderen ärgern und verletzen können – und hoffentlich noch besser, wie Sie die andere zum Lachen bringen können.
Aber ob Sie sich wirklich kennen? So richtig kennen?

„Natürlich kennt ihr mich. Ihr wisst woher ich bin.“ Jesus sagt das. Er sagt es, als er schon längst erwachsen ist. Da ist er im Tempel in Jerusalem. Er steht dort und redet zu den Menschen.
Die Menschen kennen ihn. Sie wissen, er kommt aus Nazareth, er ist der Sohn eines Zimmermanns und hat selbst Zimmermann gelernt. Sie wissen ebenso, dass er jetzt wie andere Männer auch als Wanderprediger durch das Land zieht, immer von einigen Frauen und Männern begleitet.
Sie haben auch die Geschichten gehört, die von ihm erzählt werden. Auf einer Hochzeit soll er Wasser in Wein verwandelt haben. Einen Gelähmten soll er auch schon geheilt haben.
Sie hören selber, wie dieser Jesus reden kann. Nicht wie ein einfacher Handwerker, sondern wie einer, der die Heilige Schrift studiert hat. Und klare, harte Worte sagt er: „Wie kommt es denn, dass ihr die Zehn Gebote habt – und keiner von euch lebt danach?“
Sie wissen, woher er kommt. Sie sehen, was er tut. Sie hören, was er sagt. Und deshalb sind sie sicher: Er kann nicht der Christus sein. Er kann nicht der sein, den Gott auf die Erde schickt.
Denn wenn der kommt – dann wird mit einem Schlag alles anders. Allen Kriegsherren laufen die Waffen weg. Allen Ausbeutern fallen die Geldbeutel aus der Hand. Allen Krankheiten gehen die Keime aus. Alle leben in Frieden und Gerechtigkeit und Gesundheit.

„Natürlich kennt ihr mich. Ihr wisst woher ich bin.“ Der erwachsene Jesus sagt das im Tempel. Und die Geschichte von dem gerade geborenen Jesus erzählt es nicht viel anders.
Sie sagt, wann es war, dass er geboren wurde: Zu der Zeit als Augustus die erste Volkszählung ausrief und Quirinius Statthalter in Syrien war. Sie sagt auch, wo er geboren wurde: In Bethlehem, der Stadt, aus der der große König David kam. In einer Futterkrippe, denn es gab keine anderen Raum in der Herberge. Sie sagt schließlich, wer die Eltern waren: Josef, der Zimmermann aus Nazareth, und Maria, sein vertrautes Weib.
Es ist die Geschichte einer Geburt. Einer nicht ganz alltäglichen Geburt, weil sie auf Reisen und nicht in einem Bett geschah. Aber einer wie sie es immer schon mal gab und immer mal wieder geben wird.
Wenn da nicht die Sache mit dem Engel wäre, der die Hirten zu dem neu geborenen Kind schickt. „Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird. Denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr.“
Christus, der Herr? In dem Kind, das in der Krippe liegt? Wie kann diese Geschichte wahr sein? Denn wenn der kommt, den Gott schickt – dann wird doch alles auf einen Schlag anders. Alle Amokläufer vergessen ihren Hass. Alle Arbeitgeber heilen ihre Gewinnsucht. Alle Kranken stehen aus ihrem Bett auf. Alle leben in Frieden und Gerechtigkeit und Gesundheit.

„Natürlich kennt ihr mich. Ihr wisst woher ich bin“, sagt Jesus. „Und doch bin ich nicht der, den ihr kennt. Es ist Gott, der mich gesandt hat.“
Der erwachsene Jesus sagt das den Menschen im Tempel. Er sagt es laut und deutlich, dass jeder es hören kann. Er sagt: „Ich bin der Christus.“
Aber wie sollen das die Menschen glauben? Sie sehen doch, was sie sehen. Und sie wissen doch, was sie wissen.
Jesus steht vor ihnen – und die Welt ist noch, wie sie war. Kein Wirbelwind hat die Waffen geholt. Kein Blitz die Ausbeuter getroffen. Kein Tuch die Keime weggewischt. Wie soll Jesus dann der Christus sein?
Und auch der Engel aus der Weihnachtsgeschichte sagt es den Hirten. Er sagt es laut und deutlich, dass ich es hören kann. Er sagt: „Das Kind ist der Christus.“
Aber wie soll ich das glauben? Ich sehe doch, was ich sehe. Und ich weiß doch, was ich weiß. Und das passt nicht zu dem, was ich glauben soll.
Keine Hand hat den Amokläufer in Newtown zurückgehalten. Kein Blitz legt die Computer der Finanzjongleure lahm. Kein Krankenhaus muss schließen, weil alle gesund werden. Wie soll Jesus da der Christus sein?

„Es ist Gott, der mich gesandt hat“, sagt Jesus. „Ihn, Gott, kennt ihr nicht.“
Vielleicht ist es das, was die Menschen lernen können, wenn sie Jesus zuhören: „Gott ist anders, als ihr ihn euch vorstellt. Gott ist so, wie ich euch entgegentrete.“
Große Dinge erwarten die Menschen von Gott. Machtvoll soll er auftreten, gewaltig und auch ein wenig zum Fürchten. Und dann muss er die schlechten Verhältnisse ändern und alles zum Guten wenden. Unwiderstehlich und gerecht.
Aber Jesus kommt unscheinbar. Ein Wanderprediger aus Nazareth. Und was er sagt, ist nicht mehr als eine Frage: „Wie kommt es denn, dass ihr die Zehn Gebote habt – und keiner von euch lebt danach?“ Und was er tut, ist nicht mehr als ein kleines Zeichen: Ein Mensch lernt neu zu laufen.
Jesus bringt Gott zu den Menschen. Indem er ihnen sagt: Ihr habt alles, um gut zusammen zu leben. Ihr habt alles, um selber zu laufen. Gott hat euch alles gegeben.

„Es ist Gott, der mich gesandt hat“, sagt Jesus. „Ihn, Gott, kennt ihr nicht.“
Vielleicht ist es das, was ich lernen kann, wenn ich auf die Weihnachtsgeschichte höre: „Gott ist anders, als du ihn dir vorstellst. Gott begegnet dir in einem Menschen.“
Ich wünsche mir das manchmal: Dass Gott ganz zweifelsfrei und sichtbar in mein Leben eingreift. Er soll einfach heil machen, was in mir kaputt gegangen ist. Besser noch: Er soll verhindern, was mir schaden könnte. Ich rufe nach einem Retter – und kommt er geritten.
Aber er kommt nicht. Nicht so jedenfalls. Sondern anders. Weil er anders ist, als ich ihn mir vorstelle. „Ich suchte Gott“, heißt es in einem Gebet. „Und fand einen Blick, der mich verstand, / und fand eine Hand, die mich suchte, / und fand einen Arm, der mich umfasste und fand einen Mund, der zu mir Ja sagte.“ Gott kommt in dem Menschen, der sich mir freundlich zuwendet.
Die Weihnachtsgeschichte erzählt, dass Gott Mensch wird. Wenn das stimmt, dass Gott den sandte, der in der Krippe lag – und ich vertraue: es stimmt –, dann liegt Gott da immer noch. Dann ist er immer noch bei den Menschen, unter Menschen zu finden, die sich begegnen.

Womit wir wieder am Anfang wären, bei der Frage, ob sie denn den Menschen kennen, der neben Ihnen sitzt. Schauen Sie ihn sich ruhig genau an. Im Lauf des Abends oder der nächsten Tage.
Womöglich entdecken Sie dann den Blick, der Sie versteht, die Hand, die Sie sucht, den Arm, der sie umfasst, den Mund, der Ja zu Ihnen sagt. Womöglich entdecken Sie dann das Geheimnis der Weihnachtsgeschichte. Das Geheimnis, das sich Ihnen in jedem Menschen offenbaren kann:
Gott schaut uns aus dem Angesicht eines Menschen an. Freundlich. Zugewandt. Weihnachtlich.

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