Gute Fahrt

„Das ist der Letzte!“ Abraham ächzt und wuchtet einen Karton auf die Ladefläche. Peter kommt und stapelt ihn auf die anderen Kartons. Er nimmt einen Gurt und zurrt die Ladung fest. „Das hätten wir!“, sagt er und springt vom Transporter. Mit einem lauten Krachen schmeißt er die Türen zu.
Abraham geht zurück ins Haus. In der Küche beugt sich Sarah gerade über einen Eimer und wringt den Wischlappen aus. „Fertig“, sagt sie und legt den Lappen über die Heizung.
Abraham schaut sich um. „Wo ist das Wasser?“, fragt er. „Ich glaube, es steht im Wohnzimmer“, antwortet Sarah. Abraham geht durch den Flur. Er bückt sich und hebt eine Schraube auf. Im Wohnzimmer steht die Wasserflasche auf dem Fensterbrett. Abraham nimmt einen Schluck und schaut hinaus.
„Das ist schon merkwürdig!“ Sarahs Stimme hallt in dem großen leeren Raum. Sie zeigt auf die Wände. Die Bilder haben schwarze Rahmen auf der gelben Farbe hinterlassen. Abraham nickt: „Das ist der Kerzenruß.“
Sarah kommt durch den Raum auf ihn zu und nimmt ihm die Wasserflasche aus der Hand. Sie trinkt einen Schluck. Ganz dicht steht sie neben ihm und schaut in den Garten.
„Wer wohl die Äpfel pflücken wird?“, fragt sie. Abraham zuckt mit den Schultern. „Die wird sich schon einer von den Nachbarn holen.“
Sarah dreht sich um. Ihr Blick wandert durch das Zimmer. „Ganz schön groß, so ganz ohne Möbel!“, sagt sie. Abraham nickt. Er schraubt die Flasche zu. „Wo hast du den Fresskorb hingestellt?“, fragt er Sarah. „Der steht neben der Haustür“, antwortet sie. „Gut“, sagt Abraham, „dann lass uns mal. Peter wartet.“ Sarah nickt. „Ich laufe noch einmal durch die Zimmer.“ Sie stößt sich vom Fensterbrett ab und geht vom Wohnzimmer durch die Küche zum Arbeitszimmer. Auf dem Fensterbrett liegt noch das Klebeband. Der Fußboden im Bad glänzt feucht. Das Fenster im Schlafzimmer ist geklappt, Sarah macht es zu.
„Alles klar?“, fragt Peter, als Sarah die Haustür hinter sich zuzieht. Sarah nickt und schließt ab. Peter hält ihr die Hand hin und nimmt den Schlüssel entgegen. „Halt“, sagt Sarah, „ich wollte noch mal in den Briefkasten schauen.“ Sie nimmt sich den Schlüssel und geht zum Haus zurück. Der Briefkasten ist leer.
„Können wir jetzt?“ Abraham kommt um den Transporter gelaufen. Sarah gibt Peter den Schlüssel und umarmt ihn. Abraham drückt Peter die Hand. „Gute Fahrt!“, sagt Peter. „Und guten Start!“ „Danke“, sagt Abraham. Er klettert hinters Lenkrad und lässt den Motor an. Sarah setzt sich neben ihn, Peter macht von außen die Tür zu. Abraham gibt vorsichtig Gas und fährt los. Sarah kurbelt das Fenster herunter, steckt Kopf und Arm hinaus und winkt.

Sarah zieht den Kopf zurück ins Fahrerhaus und schließt das Fenster. „Tschüß, zu Hause!“, sagt sie leise. Abraham schaut sie an. Ihre Augen glänzen feucht. „Bestimmt der Fahrtwind“, sagt sie und wischt sich mit den Händen übers Gesicht.
Gestern Abend hat sie sich von ihren Eltern im Nachbardorf verabschiedet. Ihr Vater hat in seinem Sessel gesessen und geschwiegen. So kennt sie ihn. Ob er arbeitet oder in seinem Sessel sitzt – immer schweigt er, aber jedes Mal anders. Gestern, das war ein trauriges Schweigen.
Vielleicht schien ihr das auch nur so, weil ihre Mutter das große, blau karierte Taschentuch nicht weglegte und immer wieder laut schnäuzte. „Nein, dass du weggehst, mein Kind. Dass du wirklich weggehst!“ Als wäre die Schallplatte hängengeblieben. „Aber Mama, ich bin doch nicht aus der Welt. Wir haben Telefon. Ihr könnt uns besuchen!“ Jedes Mal, wenn sie das sagte, war ihr klar, dass es nicht hilft.
Dennoch wünschte sie sich, dass ihre Mutter es ihr einfacher machte. Der Abschied fiel ihr doch selber schwer.
Sie will doch auch nicht weg. Schließlich ist sie hier aufgewachsen. Mit Peter, ihrem Bruder, und dem Hund und den Katzen und den Hühnern und den Kaninchen. Sie alle haben auf dem kleinen Hof in dem Dorf gelebt. Im Bach hinterm Haus hat sie mit Peter mit kleinen Stöcken Schiffchen gespielt. Mit Karla, ihrer Freundin, hat sie im Wäldchen heimlich die erste Zigarette geraucht. Bei der großen Eiche hatte sie sich mit Bernd getroffen, ihrem ersten Freund. Auf dem Feldweg hat er sie geküsst.
Vierzehn Jahre alt war sie damals. Zwei Jahre später lernte sie Abraham kennen, beim Erntefest. Er kam mit dem Fahrrad, obwohl er schon Führerschein und Auto hatte. Er hörte zu, was sie zu erzählen hatte, und musste keine Sprüche klopfen. Er traute sich auf die Tanzfläche, auch wenn seine Kumpels an der Bar kleben blieben. Er war so anders, dass sie sich in ihn verlieben musste.
Wann war es, als er sie fragte, ob sie zusammenziehen wollten? Am Tag, als sie die Zusage bekam, dass die Zahnarztpraxis sie nach der Ausbildung übernimmt. Wenigstens eine Nacht wollte sie darüber schlafen. Aber ihre Antwort war schon vorher klar.
Nach ihrer Wohnung mussten sie gar nicht lange suchen. Hübsch war sie, gut gelegen in der Kleinstadt. Sie konnte zu Fuß in die Praxis laufen. Er fuhr meistens mit dem Fahrrad zum Landwirtschaftsbetrieb. An manchen Abenden und am Wochenende trafen sie sich mit den Freunden, gingen weg, spielten Monopoly, feierten Feste.
Als er 30 Jahre alt wurde, fingen sie an Pläne zu schmieden. Ein Haus wollten sie bauen, auf dem Land ihrer Eltern. Platz genug gab es da. Günstig war es auch. Und dann wären auch die Großeltern gleich in der Nähe, wenn erst die Enkel geboren wären.
Und jetzt sitzt sie in diesem Transporter und lässt das alles hinter sich. Wie kann sie nur?
Abraham schaut in den Rückspiegel. Das Ortsschild wird kleiner. Nun sind sie also unterwegs. Auf diesen Augenblick hat er gewartet, seit er sicher war, dass sie aufbrechen würden.
Wie lange weiß er es schon? Ein halbes Jahr vielleicht. Da war er morgens aufgewacht und hatte gewusst: Sie müssen hier weg. Sie können hier nicht bleiben. Das hatte gar nichts damit zu tun, wie es hier war. Wenn es danach ging, würde er nicht weggehen. Warum auch? Sarah und er hatten hier doch alles. Alles, um glücklich zu sein und zu bleiben.
Aber er hatte geträumt, in jener Nacht. Einen merkwürdigen Traum. Er sah eine Karawane in einer Wüste. Beladene Kamele, einen Pferdewagen. Er sah einen Mann in weißen Kleidern, der mit einem Hirtenstock in die Ferne zeigte. Als er aufwachte, hatte er dieses Lied im Kopf, mit dem sie ihm in der Konfirmandenzeit immer gehänselt hatten: „Geh, Abraham, geh, und mach’ dich auf den Weg…“
Er hatte das alles schon wieder vergessen – da sah er im Traum noch einmal die Karawane und den Mann mit dem Hirtenstock. Sie standen vor einem Gebäude, das aussah wie eine römische Arena, so wie er sie aus den Asterix-Heften kannte. Am Morgen hatte er wieder diesen schrecklichen Ohrwurm im Kopf: „Geh, Abraham, geh…“
In der Woche danach surfte er aus purer Langeweile durch die Stellenanzeigen auf der Agrar-Anzeigenbörse. Plötzlich sah er sich der Arena aus seinem Traum gegenüber. Es lernte: Das ist das Amphitheater von Arles. Ein deutscher Ökolandwirt warb mit dem Bild für seinen Betrieb in Südfrankreich. Da wusste er, wo er hinmusste.
Jetzt sitzt er im Transporter und fährt in den Süden. Dorthin, wo er noch nie gewesen ist. Er fragt sich immer noch, wie es ihm gelungen ist, seine Sarah zu überreden, mitzukommen. Nach Frankreich, wo sie beide kaum ein Wort französisch sprechen. Außer den paar Brocken, die sie in den letzten Wochen in der Volkshochschule gelernt hat.
Zum Glück hat ihn keiner gefragt, ob er Angst hat. Sonst hätte er lügen müssen – oder Ja sagen. Klar hat er Angst. Er weiß nicht, was ihn erwartet. Er hat noch nicht einmal eine Ahnung davon, wie es werden wird. Er fährt ins Fremde, ins Unbekannte. Nur Sarah nimmt er mit. Aber das Komische ist: Genauso füllt ihn eine große Vorfreude aus. Er weiß, dass er dort hin muss. Er weiß, dass dort etwas auf ihn und Sarah wartet.

Abraham hält an einer Ampel. Sarah kramt im Handschuhfach. „Hast du die ins Handschuhfach gelegt?“ Sie zeigt Abraham eine Postkarte. Gelb ist sie und rot. Er schüttelt den Kopf. „Ach, die ist von Peter“, sagt Sarah. „Er hat was draufgeschrieben: ‚Gute Fahrt – mit Gottes Segen, euer Peter! Nett! Ich werde ihn vermissen.“
„Ich auch“, sagt Abraham, „und was steht vorne drauf?“ Sarah dreht die Karte um und schaut sich das Bild an. Ein leuchtendes Gelb wie von einer Sonne oder einem gleißenden Licht. Rote und orange Streifen. Kleine Rechtecke in blau und lila und rot. Und ein Satz: „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir. Hebräer 13,14.“ Sarah liest ihn laut vor. „’Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.’ Passt irgendwie, oder, Abraham?“ „Ja, Sarah, das passt“, sagt Abraham. „Wo Peter die bloß wieder her hat?!“ Sarah schmunzelt: „Die sieht so aus, als hätte er sie aus der Kirche mitgebracht.“
Die Ampel springt auf grün. Abraham legt den Gang ein und fährt los. „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir“, sagt er, „na denn: Gute Fahrt, Sarah.“ „Gute Fahrt, Abraham.“

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