Ins Gesicht sagen
„Wirksame politische Einflussnahme“
– das war in den letzten DDR-Jahren erklärtes Ziel der Staats- und
Parteioberen gegenüber den Kirchen.
Zu diesem Zweck luden sie in planvoller
Regelmäßigkeit die Männer aus der Kirchenleitung zum Gespräch. Da
saßen sich dann zum Beispiel der Stellvertreter für Inneres des
Rates des Bezirkes und der Bischof gegenüber.
Der Staatskader begann das Gespräch
mit Ausführungen zur allgemeinen politischen Lage unter Hinweis auf
die einschlägigen Beschlüsse der Partei und der Verlautbarungen des
Genossen Staatsratsvorsitzenden.
Danach kam er auf einzelne Probleme zu
sprechen. Sie betrafen oft genug die Aktivitäten der Basisgruppen in
den Gemeinden. Das waren die Gruppen, die sich mit politischen Themen
wie Frieden, Umwelt und Menschenrechte befassten.
In den Augen von Staat und Partei
fielen sie auf, nämlich als feindlich-negative Kräfte, wie es in
der Sprache der Staatssicherheit hieß. Stellten sie doch die Politik
von Staat und Partei in Frage.
Also schmeichelte und drohte der
Stellvertreter für Inneres dem Bischof. Der Bischof sei doch ein
vernünftiger Mensch und werde sich als solcher bestimmt für das
gute Verhältnis zum Staat einsetzen.
Deshalb müsse er sich gegen die
feindlich-negativ Aktivitäten der Basisgruppen in seiner Kirche
stellen. Die Gruppen sollten nicht über politischen Fragen
diskutieren, sondern sich auf kirchlich-religiöse Themen
beschränken. Beten und Gedöns.
Der Bischof musste sich dann dazu
verhalten. War er auch feindlich-negativ? Oder war er positiv zum
Staat eingestellt?
Wir wechseln Ort und Zeit und gehen in
das Land Juda ungefähr im Jahr 600 vor Christus. Da tritt Jeremia
auf und nimmt für sich in Anspruch, Worte von Gott weiterzusagen.
So spricht der Herr Zebaoth: Hört
nicht auf die Worte der Propheten, die euch weissagen! Sie betrügen
euch, sie verkünden euch Gesichte aus ihrem Herzen und nicht aus dem
Mund des Herrn. Sie sagen denen, die des Herrn Wort verachten: Es
wird euch wohlgehen –, und allen, die im Starrsinn ihres Herzens
wandeln, sagen sie: Es wird kein Unheil über euch kommen. Aber wer
hat im Rat des Herrn gestanden, dass er sein Wort gesehen und gehört
hätte? Wer hat sein Wort vernommen und gehört?
Siehe, es wird ein Wetter des Herrn
kommen voll Grimm und ein schreckliches Ungewitter auf den Kopf der
Gottlosen niedergehen. Und des Herrn Zorn wird nicht ablassen, bis er
tue und ausrichte, was er im Sinn hat; zur letzten Zeit werdet ihr es
klar erkennen.
Ich sandte die Propheten nicht, und
doch laufen sie; ich redete nicht zu ihnen, und doch weissagen sie.
Denn wenn sie in meinem Rat gestanden hätten, so hätten sie meine
Worte meinem Volk gepredigt, um es von seinem bösen Wandel und von
seinem bösen Tun zu bekehren.
Bin ich nur ein Gott, der nahe ist,
spricht der Herr, und nicht auch ein Gott, der ferne ist? Meinst du,
dass sich jemand so heimlich verbergen könne, dass ich ihn nicht
sehe?, spricht der Herr. Bin ich es nicht, der Himmel und Erde
erfüllt?, spricht der Herr. Ich höre es wohl, was die Propheten
reden, die Lüge weissagen in meinem Namen und sprechen: Mir hat
geträumt, mir hat geträumt.
Wann wollen doch die Propheten
aufhören, die Lüge weissagen und ihres Herzens Trug weissagen und
wollen, dass mein Volk meinen Namen vergesse über ihren Träumen,
die einer dem andern erzählt, so wie ihre Väter meinen Namen
vergaßen über dem Baal?
Ein Prophet, der Träume hat, der
erzähle Träume; wer aber mein Wort hat, der predige mein Wort
recht. Wie reimen sich Stroh und Weizen zusammen?, spricht der Herr.
Ist mein Wort nicht wie ein Feuer,
spricht der Herr, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt?
Jeremia 23,16-29
Propheten reden weniger über die
Zukunft als über die Gegenwart. Was sie zu sagen haben, gilt jetzt.
Es gilt den Menschen, vor denen sie stehen und zu denen sie reden.
Jeremia sagt, was er zu sagen hat, in
einer Zeit, in der jeder versucht, das Beste für sich herauszuholen.
In der die Starken auf die Schwachen keine Rücksicht nehmen. In der
jeder danach strebt, auf seine Art glücklich zu werden.
Jeremia ist nicht allein. Da sind noch
andere Propheten – Politikberater, Meinungsmacher, Influencer.
Allerdings solche, die das Für-sich-selber-Sorgen für gut befinden.
Vielleicht mit dem Argument: Wenn jeder
an sich denkt, ist an alle gedacht. Oder: Wenn jeder nach
persönlichem Reichtum strebt, werden insgesamt alle reicher.
Sie finden das Tun nicht nur gut. Sie
halten es auch für Gottes Willen. Denn Gott hat ja versprochen bei
seinem Volk zu sein. Sein Segen liegt also auf allem, was die
Menschen tun. Und er zeigt sich darin, wenn einer reich und mächtig
wird.
So in etwa reden sie, folgen darin
ihrem Herzen und ihren Träumen und empfehlen allen anderen, es
genauso zu halten: Folgt euren Herzen und Träumen – und Gott wird
mit euch sein!
Ganz anders redet Jeremia. Oder besser:
Er muss ganz anders reden.
Worte, die wie Feuer sind, wie ein
Hammer, der Felsen zerschmeißt – die muss er reden. Worte, die
Träume zerplatzen und Herzen gefrieren lassen.
Es sind Worte, die soziale Missstände
aufdecken, die Armut einen Skandal nennen, die Selbstsucht anklagen,
die sagen: Was ihr tut, ist euer Wille. Es ist nicht Gottes Wille.
Auf dem, was ihr tut, liegt euer
Wohlgefallen; nicht Gottes Segen. Gott ist euch fern. Ihr sagt zwar,
dass ihr Gott von ganzem Herzen liebt. Aber ihr lebt nicht so.
Gott hat mit euch einen Bund
geschlossen – und ihr habt ihn gebrochen. Ihr lebt nicht nach dem
Bund. Denn sonst würdet ihr euch um die Armen kümmern. Ihr würdet
gemeinsam nach Wegen zu einem guten Leben für alle suchen.
Ihr seid Lügner. Denn ihr sagt, ihr
liebt Gott, aber in dem, was ihr tut, verachtet ihr eure Mitmenschen.
Wer Gott liebt, der soll sich seinen Mitmenschen zuwenden.
So redet Jeremia – und leidet
darunter, dass er Worte reden muss, die Gott ihm in den Mund legt und
die ihn zum Außenseiter machen.
Zurück zum Gespräch zwischen den
Staatskadern und den Kirchenleitenden zu DDR-Zeiten.
Der Stellvertreter für Inneres
versuchte also, den Bischof zu überzeugen, dass erstens die Partei
immer Recht hatte und dass zweitens der Bischof dafür zu sorgen
hatte, dass die Gruppen in den Gemeinden nicht feindlich-negativ
auffielen.
Der Bischof musste sich nun
entscheiden. Er konnte sich aus Sorge für die Kirche und die
Gemeinden um ein gutes Auskommen mit Staat und Partei bemühen.
Dann versprach er, sich dafür
einzusetzen, dass alle Gruppen in seiner Kirche sich nur mit
kirchlich-religiösen Themen befassten und die Fragen nach Frieden,
Umwelt, und Menschenrechte außen vor blieben.
Oder er konnte das Ansinnen ablehnen,
dass er für alle Äußerungen in und aus den Gemeinden gerade stehen
sollte. Weil für ihn zum Auftrag von Kirche und Gemeinden, von
Christen gehört, aus dem Glauben heraus gesellschaftliche Themen zu
diskutieren und sich einzusetzen.
Nicht nur der Bischof musste sich
entscheiden. Jeder einzelne Christ, die Gemeinden mussten sich
entscheiden. Wollten sie ein wenig wie Jeremia sein?
Wollten sie Worte sprechen, die
unangenehm und unbequem sein konnten? Für die, die sie hörten, wie
für die, die sie aussprachen? Worte, die die Politik von Staat und
Partei kritisierten. Die sich für Frieden und Umwelt, für
Demokratie und Meinungsfreiheit einsetzten.
Im Schutzraum der Kirche entschieden
sich viele für diese unangenehmen und unbequemen Worte. Dadurch
wurden vor allem die Basisgruppen in den Gemeinden zu Keimzellen der
Wende.
Nun liegt die Wende inzwischen bald 30
Jahre zurück und die Zeiten sind andere geworden. Aber ein wenig wie
Jeremia zu sein, das steht der Kirche, den Gemeinden nach wie vor gut
zu Gesicht.
Der Auftrag gilt weiter, unangenehme
und unbequeme Worte zur politischen und gesellschaftlichen Lage zu
sprechen und sich immer wieder einzubringen.
Da ist zum Beispiel Bischof Michael
Curry, der bei der Trauung von Meghan und Harry so mitreißend
predigte.
Mit Kolleginnen und Kollegen aus
US-amerikanischen Kirchen und Hochschulen hat er an Pfingsten ein
Bekenntnis mit dem Titel „Reclaiming Jesus“ veröffentlicht.
Weil „die Seele unseres Landes und
die Integrität des Glaubens auf dem Spiel stehen,“ halten Curry
und die anderen angesichts der aktuellen politischen Lage in den USA
sechs zentrale Glaubensaussagen fest. Sie bekennen unter anderem:
„Jedes menschliche Wesen wurde
geschaffen als ein Ebenbild Gottes. Als solch ein Ebenbild hat Gott
jedem und jeder Würde und Wert beigelegt, so dass wir Kinder des
einen Gottes sind, der alles geschaffen hat. Jede Form des Rassismus
verleugnet die Ebenbildlichkeit Gottes bei einem Teil der Kinder
Gottes.“
„Wir bekennen: [...] Wie wir Menschen
behandeln, die als „benachteiligt“, „Fremde“, „Außenseiter“
oder sonst wie als am Rand stehend gelten, erweist, wie es um unser
Verhältnis zu Gott steht, der uns alle in seiner göttlichen Größe
und Liebe gleich geschaffen hat.“
„Wir bekennen, dass Wahrhaftigkeit im
persönlichen wie im öffentlichen Leben von zentraler moralischer
Bedeutung ist. Die Wahrheit auszusprechen steht im Zentrum der
prophetischen Tradition der Bibel, deren Berufung beinhaltet, das
Wort Gottes in die jeweilige Gesellschaft hinein zu sprechen und den
Mächtigen die Wahrheit ins Gesicht zu sagen.“
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