Das Lieben hat begonnen
Wilhelm Morgner (1891 - 1927): Einzug
Christi in Jerusalem. Gemälde zum Palmsonntag 1912.
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I
Erster Advent: Bald ist es so weit,
sagen die Kinder. In allen Farben malen sie sich aus, wie es sein
wird, wenn es tatsächlich so weit ist.
Ob es richtige Kerzen am Baum gibt oder
eine Lichterkette. Welche Großeltern in diesem Jahr zu Besuch sind.
Was alles an Geschenken unterm Baum liegt. Wie lecker das Essen wird.
Bald ist es so weit, sagen die Kinder.
Die Augen leuchten, die Stimme überschlägt sich vor Begeisterung.
Mit jedem Türchen, das die Kinder öffnen, wird die Wartezeit
kürzer.
Erster Advent. Wäre es doch schon so
weit, sagen die Eltern. In allen Farben zeichnet der Terminkalender
vor, was noch alles zu erledigen ist, bis es endlich so weit ist.
Hier findet die Weihnachtsfeier statt.
Dort wartet die Freundin mit dem Adventstee. Das eine Kind soll zu
den Proben fürs Krippenspiel, das andere muss in der Musikschule
vorspielen. Die Fähre zum Festland für den Geschenkekauf in
Flensburg oder Husum ist auch noch nicht gebucht.
Ach, wenn es doch so weit wäre, sagen
die Eltern. Die Stimme – ein Seufzen. Die Augen jetzt schon müde.
Mit jedem Tag wächst die Liste dessen, was noch zu ist.
Advent also. Oder auch: Das Warten hat
begonnen. Für die einen fängt mit dem Warten der Stress an. Für
die anderen liegt im Warten schon die Freude.
Es ist wie mit der Sehnsucht. Wonach
ich mich sehne, das fehlt mir, sagen die einen. Es ist so fern.
Wonach ich mich sehne, das kommt schon, sagen die anderen. Es ist so
nah.
II
Es ist auch wie mit der Liebe.
Paulus schreibt nach Rom:
Für Paulus fängt mit dem Lieben der
Stress an: „Die Liebe seid ihr einander immer schuldig!“, schreibt
er. Es gibt in der Liebe immer etwas zu tun.
Paulus zählt die Gebote auf: »Du sollst die Ehe nicht brechen! Du sollst nicht töten! Du sollst nicht stehlen! Du sollst nicht begehren!«
Natürlich kann ich hinter das eine
oder das andere innerlich schnell ein Häkchen setzen. Ich tue das ja
nicht: die Ehe brechen oder töten.
Beim Stehlen bin ich schon
vorsichtiger: Ist es stehlen, wenn ich einen Kassenirrtum zu meinen
Gunsten nicht aufkläre und das überzählige Wechselgeld einfach
behalte?
Beim Begehren rechnen zumindest Amazon
& Co. damit, dass ich ihm nicht standhalte: Aus dem Black Friday
wird eine Black Week, täglich piepen Sonderangebote aufs Smartphone
und versprechen Zahlungsaufschub bis in den Januar.
Aber wenn ich ehrlich bin zu mir und
anderen: Lieben, das zeigt sich im Alltag nicht so sehr in den großen
Taten. Lieben, das bedeutet täglichen Kleinkram.
Auch beim Lieben ist der Alltag grau.
Dem Kind den Schulranzen nachzutragen, ohne zu murren. Der Frau zu
helfen, die an der Kasse in ihrem Kleingeld sucht. Freundlich über
den Nachbarn zu reden, der sein Laub nicht harkt.
Den Smiley mit Bedacht zu wählen, den
ich in eine Antwort auf eine unfreundliche Nachricht setze. Das
Meerschweinchen zu füttern oder den Tisch zu decken, obwohl ich
nicht an der Reihe bin.
„Die Liebe seid ihr einander immer
schuldig!“, schreibt Paulus. Ihr seid nie fertig. Es gibt immer etwas
zu tun. Das ist die eine Sicht.
Paulus schreibt aber auch:
Das ist die andere Sicht der Dinge. Mit
dem Lieben fängt für Paulus auch schon die Freude an. Es braucht
für die Liebe nur – die Liebe.
Liebe, die nicht etwas tut, sondern
etwas sieht. Die jemanden sieht, nämlich den Mitmenschen. Es macht
einen Unterschied: Sehe ich in dem anderen einen, der mich bedroht?
Oder sehe ich in der anderen eine, die mich braucht?
Die Liebe macht keinen Unterschied: Sie
sieht in jedem anderen einen, den Gott wunderbar gemacht hat. Sie
erkennt in jeder anderen ihr Ebenbild, das Gott gleicht.
So macht die Liebe den Unterschied: Wen
sie auch ansieht, sie sieht den anderen mit Liebe an. Sie bringt der
anderen die Liebe entgegen, die sie von ihr und für sich selber
erwartet.
Die Liebe setzt die Liebe voraus. So
entdeckt die Liebe immer schon die Liebe, wo sie auch hinschaut. So
hat sich die Liebe immer schon erfüllt, bevor sie etwas getan hat.
III
Advent also. Das Warten hat begonnen.
Und das Lieben hat begonnen. Auf einem Esel zum Beispiel zieht die
Liebe ein auf dem Weihnachtsmarkt.
Jesus reitet über Mäntel und Zweige
hinweg, die aus der Einkaufsstraße einen bunten Teppich machen.
Jesus reitet und sieht dabei die Menschen, die ihre Mäntel vor ihm
über den Asphalt gelegt und für ihn Tannenzweige ausgebreitet
haben.
Mit Liebe sieht er sie. Er sieht das
Kind, das immer dort ist, wo etwas zu sehen ist auf den Straßen,
weil es statt zuhause lieber auf der Straße ist.
Er sieht den Mann, der seinen Anzug
trägt wie eine Rüstung und auf ihn herab sieht und auf die
Menschen, die er mit seinem Schirm zur Seite schiebt.
Er sieht auch die Frau, die schwer
trägt an den Taschen mit all den Einkäufen und sich dieses eine Mal
nicht hinten anstellt, sondern ganz nach vorne drängelt, um etwas zu
sehen.
Mit Liebe sieht Jesus diese Drei an und
all die anderen Menschen, an denen er vorüber reitet. Und sie alle
sehen ihn und sehen, wie er sie ansieht.
Die Frau atmet auf. Da ist einer, der
sie sieht. Nicht nur das, was sie trägt für andere. Sondern die,
die sie für sich selber immer schon ist.
Der Anzugmann hält die Luft an. Er
spürt, wie sein Herz den Ring sprengt, der sich vor langen Jahren um
es gelegt hat. Der Aktenkoffer gleitet ihm aus der Hand.
Das Kind atmet durch. Einen Augenblick
braucht es nicht zu rennen und nicht zu suchen. Eine Hand hält es,
die es für immer festhalten will.
Das Kind wird weiter auf der Straße
leben. Der Anzugmann wird von Neuem gewichtige Entscheidungen über
andere treffen. Die Frau wird ihren Einkauf nach Hause tragen und in
den Schränken verstauen.
Aber für sie hat sich schon erfüllt,
worauf sie weiter warten. Die Augen leuchten, die Stimme schlägt
über vor Begeisterung: »Hosanna dem Sohn Davids! Stimmt ein in unser Loblied auf den, der im Namen des Herrn kommt! Hosanna in himmlischer Höhe!«
Aber da sind ja noch andere. Sie sehen
dem Mann nach, der auf dem Esel vorüber geritten ist. „Wer ist er nur?“, fragen sie sich und andere, während er im Trubel des
Weihnachtsmarktes verschwindet.
Sie kehren zurück nach Hause. Sie
haben es eilig. Es gibt noch so viel zu tun bis Weihnachten.
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