"Ich bin dann mal da!"

Stellt euch vor: Es ist noch einmal heute Mittag. Ihr summt vorfreudig ein Lied. „Alle Jahre wieder kommt das Christuskind.“ Da klingelt es an der Tür.

Ich bin hingegangen. In Erwartung des Weihnachtsboten, der zuletzt täglich kam. Mit seinem gelben Elektroauto und den lächelnden Paketen.
Er ist es aber nicht. Der da vor der Tür steht, ist vielleicht fünfzehn Jahre jünger als ich. Drei-Tage-Bart, graue Mütze. Etwas müde im Gesicht. Aber ein Lächeln um den Mund und in den Augen.
Eigentlich ganz sympathisch. Aber was will er? Hoffentlich nicht das, wonach es aussieht: Auf dem Rücken trägt er einen Rucksack, der schwer aussieht. Neben sich hat er eine große blaue Plastiktasche abgestellt.
„Hallo“, sagt er. „Ich bin Jesse.“ Er streckt mir seine Hand hin. Ich nehme sie und sage „Guten Tag?“
Jesse lässt meine Hand nicht los. Er hält sie fest. Er schaut mir in die Augen. Er sagt: „Da bin ich also.“ Ich schaue ihn an. In meinem Kopf arbeitet es. Muss ich ihn kennen? Habe ich etwas vergessen?
Der vor mir steht, schmunzelt. Vielleicht sieht mein verwirrtes Gesicht lustig aus. „Ja, das kenne ich“, sagt er. „So geht es vielen. Sie sagen, sie erwarten mich. Und wenn ich dann vor der Tür stehe, wundern sie sich. Aber willst du mich nicht hereinlassen?“


Stellt euch vor, das geschieht euch so: Das Christkind steht vor der Tür. Nicht klein und niedlich. Sondern ziemlich groß und erwachsen. Mit einem Rucksack und einer Tasche.

Ich trete langsam zur Seite. Jesse zwängt sich mit Tasche und Rucksack durch die Tür.
Kurz darauf sitzen wir um den Esstisch. Jesse und die ganze Familie. Vor uns die Schälchen mit Cornflakes und Müsli und Milch. In der Küche blubbert und zischt der Espresso.
Jesse isst bedächtig und mit einem Lächeln. Ob denn alles vorbereitet sei, fragt er uns. Ob sie sich denn auf die Geschenke freuten, fragt er die Kinder.
„Ich freue mich, dass ich hier bin“, sagt Jesse. „Da können wir so richtig, richtig schön Weihnachten miteinander feiern. Wisst ihr, was mein Lieblingslied ist? Alle Jahre wieder …“
Aber für uns ist es das erste Mal, dass er kommt. So wirklich. Wie gut, dass wir in diesem Jahr keine Eltern und Großeltern zu Besuch haben. Das Gästezimmer ist frei.
„Macht euch keine Umstände“, sagt Jesse. „Ich habe meinen Schlafsack mit. Nur ein Handtuch wäre nett.“
Aber natürlich macht das Umstände. Wenn Gottes Sohn bei dir am Tisch sitzt und die Sache mit Gott mit einem Mal ernst wird. So schön dieser Besuch auch ist – ganz gelungen findest du die Überraschung nicht, so ganz ohne Vorankündigung.
Nach dem Espresso steht Jesse auf vom Tisch. „Geht ihr man in die Kirche“, sagt er. „Ich halte ein wenig Mittagstunde.“

Juble und freue dich, Tochter Zion; denn siehe, ich komme und wohne in deiner Mitte - Spruch des HERRN.

Stellt euch vor, ihr macht das: Ihr lasst das Christkind hinein in euer Haus, in eure Wohnung. Richtet ihm ein Bett, damit es bleiben kann.

Jetzt sind wir also hier. Und Jesse wartet bei uns zuhause. Ich frage mich ja, was er dort wohl tut.
Ob er neugierig ist? Eine Hausführung konnten wir vorhin noch nicht machen. Womöglich geht er allein durch die Räume und schaut sich um. Was wird er sehen? Und wie?
Auf den Schreibtischen und in den Büros stapelt sich das Papier, liegen die Bücher durcheinander. Die Arbeit der letzten Tage räumen wir irgendwann zwischen den Jahren auf.
In den Kinderzimmern sieht es nach Leben aus. Eine Schranktür steht bestimmt offen. Unterm Bett hat sich Zeugs angesammelt. Hier liegt ein Schleich-Pferd, da ein Legostein.
Haben wir heute Morgen im Schlafzimmer eigentlich die Betten gemacht? Oder sind die noch ganz verwurschtelt vom Schlaf und den Träumen in der Nacht?
Die Spülmaschine müsste bald fertig sein. Vielleicht räumt er sie ja aus. Obwohl: Er weiß gar nicht, wohin mit dem Geschirr. Am Ende macht er mehr Unordnung, als er uns hilft.
Obwohl: Wenn Gottes Sohn durch deine Wohnung läuft, denkst du erst einmal an deine eigene Unordnung. Was alles unaufgeräumt ist in deinem Leben und nicht so, dass du es anderen oder gar ihm zeigen magst.
Immerhin: Das Wohnzimmer ist schon eine Weihnachtsstube. Die Decken liegen ordentlich auf dem Sofa. Den Baum haben die Kinder geschmückt. Nur die Geschenke müssen wir noch hinlegen. Vielleicht sitzt Jesse ja dort und wartet.

Juble und freue dich, Tochter Zion; denn siehe, ich komme und wohne in deiner Mitte - Spruch des HERRN.

Stellt euch vor, das erwartet euch: Wenn ihr nach Hause kommt, sitzt da schon das Christkind und schaut euch entgegen: „Da seid ihr ja wieder!“

Wenn wir gleich nach Hause gehen, dann steht alsbald das Essen auf dem Tisch. Die Kinder wünschen sich Käsefondue.
Und doch wird es anders sein. Wir haben ja einen Gast. Vielleicht spricht Jesse ein Tischgebet: „Vater, hab Dank für das, was auf dem Tisch steht, und dass ich zu Gast sein darf.“
Womöglich teilt er das Brot aus und zeichnet ein kleines Kreuz über den gefüllten Weingläsern. Das Essen wird schmecken wie immer und doch wird es anders sein.
Wir vergessen die ganze Unruhe und auch die Kinder gedulden sich. Bis endlich das Glöckchen alle zum Tannenbaum und zur Bescherung ruft.
Wobei die eigentlichen Geschenke ja nicht unterm Baum liegen, sondern auf zwei Beinen vor ihm stehen. Erst recht, wenn es Gottes Sohn ist. Du bist beschenkt, weil so viel unterm Baum liegt. Er beschenkt dich, weil er da ist und bei dir in dem allem. Das ist ein Segen.
Wir singen ein Lied. Jesse stimmt an: „Alle Jahre wieder“ – natürlich. Dann packen wir die Geschenke aus. Die Kinder in aller Eile. Wir Großen in aller Ruhe.
Dann freuen sich alle über das, was sie auspacken. Und über die Wünsche, die noch offen bleiben für das nächste Jahr. Wunschvoll glücklich.

Juble und freue dich, Tochter Zion; denn siehe, ich komme und wohne in deiner Mitte - Spruch des HERRN.

Stellt euch vor, so wird das: Ihr sitzt zusammen wie immer und doch anders. Weil dieses Jahr ist es wirklich und leibhaftig in eurem Haus eingekehrt mit seinem Segen, das Christkind.

Natürlich ist er längst kein Kind mehr, der Jesse, der zu später Stunde noch unsere Zeit teilt. Ein erwachsener Mann, der gerade erst geklingelt hat und schon zur Familie gehört.
Er schaut den Kindern zu, wie sie die Geschenke zusammenbauen, im Buch blättern. Er arbeitet sich durch die Bedienungsanleitung für das Spiel des Jahres.
Nebenbei unterhalten wir uns. Über die Zeit, die verfliegt und an Abenden wie diesen auch mal stillsteht. Über die Sehnsüchte, die uns antreiben und von denen wir gar nicht erwarten, dass sie sich erfüllen. Über Geschenke, die uns beglücken über den Tag hinaus.
Und wie es hin und wieder ist, wenn Besuch da ist: Manches können wir sagen, was wir sonst für uns behalten. Jesse ist ein aufmerksamer Zuhörer.
Es tut gut, zu erzählen. Wenn du weißt, dass du dein Leben mit Gottes Sohn teilst. Weil er auch dir zur Seite steht, wird dein Alltag heilig. Und dein Herz öffnet sich für seinen Segen.
So wird aus dem Heiligabend eine heilige Nacht. Wir sitzen lange da und spiegeln uns im Angesicht, mit dem Jesse uns anschaut. Wir fragen uns, wie es wäre, wenn er auch morgen noch da ist.
Und hören wie er sagt: „Ich bin gekommen, um zu bleiben.“

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