Immer dieselbe Frage
Eben war er noch ein kleines Kind an
der Brust seiner Mutter. Aber Johannes wuchs heran und nahm zu an Verstand.
Und eines Tages geschah es: Da rief
Gott Johannes in seinen Dienst. […] Nun zog er durch die ganze
Gegend am Jordan und verkündete den Menschen: »Lasst euch taufen!
Ändert euer Leben! Gott will euch eure Schuld vergeben!«
Es kamen aber auch einige Leute am
dritten Advent in den Gottesdienst. Die fragten Johannes ebenfalls:
„Und wir, was sollen wir tun?“
Sie schauten auf zu ihm. Weil er, wenn
auch in sicherem Abstand, überlebensgroß vor ihnen stand und aus
seiner heiligen Höhe auf sie herabschaute.
Am liebsten hätte Johannes mit den
Schultern gezuckt: „Das weiß ich doch auch nicht!“
Seit er da stand, in der Ecke neben dem
Altar, stellten sie ihm immer wieder dieselbe Frage. Eine Generation
war auf die andere gefolgt in den fünf Jahrhunderten und ein
bisschen, die er jetzt schon in seiner Kirche verbrachte.
Die Menschen hatten sich verändert.
Die Welt, in der sie lebten, war eine andere geworden. Und auch die
Kirche und die Gottesdienste hatten sich verändert.
Aber die Frage war immer dieselbe
geblieben: „Und wir, was sollen wir tun?“
Gern hätte er das Buch von sich
geworfen, das er die ganze Zeit in der Hand hielt. Der Arm war ganz
steif geworden davon. Und dann hätte er ihnen gesagt: „Das wisst
ihr doch schon längst, was ihr tun sollt!“
Doch eines war geblieben. Die Aufgabe
war die gleiche. Die Aufgabe, die sein Vater Zacharias ihm übertragen
hatte, als er noch ein Säugling war. Die Aufgabe, zu der ihn Gott
eines Tages in der Wüste berufen hatte: Du sollst dem Herrn
vorangehen und die Wege für ihn bereit machen.
Also konnte er das Buch nicht einfach
wegwerfen. Schließlich war es das Buch des Herrn. Und der Herr, das
Lamm, saß darauf.
Also musste er weiter und weiter die
immer gleiche Frage beantworten: „Und wir, was sollen wir tun?“
Johannes schaute erst einmal aus dem
Fenster. Da draußen gab es nur wenig zu sehen. Ein paar Krähen, die
im Wind durch den grauen Himmel tanzten.
Hin und wieder ein Mensch, der den
Kragen hochschlug und auf seinen Hund wartete. Ein paar Autos, die
über das Pflaster ratterten. Im Sommer war hier mehr los.
Die Menschen kamen ihm ja immer wieder
wie kleine Kinder vor. Quengelnde Kinder, wie er es vor langen Zeiten
bestimmt nie gewesen ist.
„Ich weiß nicht, was ich machen
soll! Was kann ich denn mal machen?“ Das war so eine Kinderfrage,
auf die es keine Antwort gab.
Was immer du als Mutter oder Vater
antwortest – schon bevor du es sagst, weißt du, was dein Kind dir
entgegnet: „Du kannst doch … !“ – „Habe ich schon gemacht!“
– „Und wenn du ….!“ – „Das ist doof!“
So war das auch mit der Frage, die sie
ihm immer wieder stellten: „Wir wissen nicht, was wir tun sollen!
Was sollen wir tun?“
Er könnte jetzt sagen: „Schickt ein
Schiff ins Mittelmeer und rettet die Flüchtlinge! Man lässt keine
Menschen ertrinken. Punkt.“
Sie würden ihm antworten: „Ja, aber
dann kommen ja noch mehr Flüchtlinge!“
Er könnte auch sagen: „Hört auf,
Waffen herzustellen und zu verkaufen! Krieg darf nach Gottes Willen
nicht sein!“
Sie würden entgegnen: „Ja, aber was
wird aus den Arbeitsplätzen? Außerdem muss man sich doch auf einen
Krieg vorbereiten, wenn man Frieden will.“
Er könnte auch zu dem Mann sagen: „Geh
zu deinem Bruder, mit dem du seit Jahren nicht mehr sprichst! Sprich
dich mit ihm aus, bevor du hierher kommst.“
Und der würde antworten: „Ja, aber
mein Bruder muss doch den ersten Schritt machen. Schließlich hat er
ja damals …“
Er könnte auch zu der Frau sagen: „Hör
auf, dir über Weihnachten den Kopf zu zerbrechen! Der Herr kommt
gewaltig, aber ganz leise.“
Und sie würde entgegnen: „Ja, aber
die Fenster muss ich noch putzen. Es kommt doch auch die
Schwiegermutter.“
Johannes wusste das alles. Schließlich
schaute er regelmäßig aus dem Fenster. Und er kannte auch schon
ihre Antworten. Seit 500 Jahren hörte er ihr „Ja, aber!“
Wer auch immer die Idee gehabt hatte,
ihn auf Herodes zu stellen. Und wer auch immer aus dem König unter
seinen Füßen einen Pilger gemacht hatte: Das war eine Lüge.
Niemand unterwarf sich ihm. Niemand
hörte auf das, was er sagte. Er war der einsame Rufer in der Wüste.
Das war das Schicksal des Bußpredigers.
Er legte den Finger in die Wunde, die
Leute schrien auf. „Was sollen wir tun, damit der Schmerz aufhört?“
Kaum hatte er geantwortet und den Finger aus der Wunde genommen, ließ
der Schmerz nach.
Und die Leute drehten sich um und
gingen nach Hause. Auf dem Weg dorthin vergaßen sie den Schmerz.
Wenn sie zu Hause ankamen, hatten sie
auch vergessen, was sie anders machen sollten.
Oder verlangte er zu viel von ihnen? Im
Menschen, der ertrinkt, einen Menschen zu sehen. Niemandem das Leben
zu nehmen, das für jede und jeden ein Geschenk war.
Statt die Hand zur Faust zu ballen, sie
zu öffnen und dem anderen zu reichen. Ein Fest zu feiern, wie es
fällt, mit offenem Herzen und einem Lächeln im Gesicht.
Johannes beneidete ja manchmal Jesus.
Wo er den Finger in die Wunde legte, heilte der die Wunden. Wo er
einen Menschen vor den Kopf stieß, legte der die Hand auf.
Jesus hatte ihm einmal gesagt, dass er
keinen Grund habe neidisch zu sein. Sie seien ja einer Meinung. Er
erwarte sogar noch mehr von den Menschen als Johannes.
Wenn dich jemand auf die rechte Backe schlägt, dann halte ihm auch deine andere Backe hin! Liebt eure Feinde! Betet für die, die euch verfolgen! Ihr könnt nicht gleichzeitig Gott und dem Geld dienen!
Nur dass sie ihm, Jesus, so oft nicht
richtig zuhörten. Sie sahen ihn an und bekamen leuchtende Augen und
dann sagten sie zu ihm: „Als ich dich das letzte Mal gesehen habe,
da warst du noch so klein!“
Ja, die Menschen sahen in Jesus immerzu
den holden Knaben mit lockigem Haar, der in seiner Krippe liegt und
am Daumen nuckelt. „Schlaf in himmlischer Ruh'“, so sangen sie.
Die Menschen machten sich ihr Bild. Sie
legten sich ihr Leben zurecht. Weder das eine noch das andere wollten
sie sich stören lassen. Nicht von ihm, nicht von Jesus.
Johannes wandet sich um. Die Menschen
saßen und standen immer noch vor ihm an diesem dritten Advent. „Und
wir, was sollen wir tun?“
Er seufzte und schaute sie an. Weil sie
ihn immer dasselbe fragten, hatte er sich ja längst eine Antwort
zurecht gelegt. Eine Antwort, mit der er leben konnte und sie
hoffentlich auch. So sagte er:
„Geht nach Hause und räumt einen
Tisch frei, im Wohnzimmer oder in der Küche, wo ihr mögt.
Vielleicht stellt ihr noch zwei Tassen hin und kocht etwas Tee oder
Kaffee. Ein paar Plätzchen oder Stollen könnt ihr auch hinstellen
oder ein Schmalzbrot.
Und dann wartet. Dann wartet noch ein
bisschen länger. Bei manchen früher, bei anderen später geht die
Tür auf und die Ruhe kehrt ein.
Sie setzt sich euch gegenüber an den
Tisch. Ihr könnt ihr sagen, was euch bewegt. Sie schenkt euch Zeit.
Sie hört euch zu und lässt euch ausreden.
Wenn ihr alles gesagt habt, auch das,
was ihr für euch behalten wolltet, dann stellt ihr die Frage: 'Was
sollen wir nun tun?'
Die Ruhe wird euch einen Augenblick
lang anschauen und noch einen. Dann werdet ihr wissen, was ihr tun
sollt.
Und in der Ruhe liegt auch die Kraft,
aufzustehen und es zu tun. In der Ruhe kommt der Herr zu euch,
gewaltig und ganz leise.
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