Ach, Sehnsucht
Im Anfang ist die Sehnsucht. Er ist nicht hier. Aber ich wünsche mir, er wäre
hier. Je länger, desto dringlicher. Bei mir, greifbar, fühlbar.
Vielleicht fängt es deswegen auch
nicht mit der Sehnsucht an. Sondern mit dem Vermissen. Ich vermisse
ihn und das, was er mir verspricht.
Wärme, die länger anhält als die
des Glühweins. Licht, das leiser leuchtet als das einer Kerze.
Ich vermisse ihn, weil das Leben ohne
ihn nicht ist, wie es sein soll. Wie ich es mir wünsche.
Vielleicht fängt es deswegen auch
nicht mit dem Vermissen an. Sondern mit dem Leben. Es tut sich eine
Leerstelle auf in meinem Leben.
Manchmal, weil das Schicksal zuschlägt
und einen Krater hinterlässt. Manchmal, weil ich mir vorkomme, als
wäre ich ein Blatt im Wind, getrieben von den Böen eines
Hagelschauers. Manchmal auch nur, weil es grau ist, wenn ich aus dem
Fenster auf mein Leben schaue.
Ja, vielleicht fängt es so an. Und
dann rufe ich nach dem Einen, der mich hält und füllt.
So
schau nun vom Himmel! / Sieh herab von deiner heiligen, herrlichen
Wohnung! / Wo ist nun dein mächtiges Wirken? / Wo ist die große,
herzliche Barmherzigkeit?
(Jesaja
63,15 – Jörg Zink.)
Jesaja
betet. Er ruft nach Gott. Vor 2.500 Jahren tut er das. Für ihn fing
es an mit dem Leben und dem Vermissen und der Sehnsucht nach dem
Einen.
Das
Schicksal hatte zugeschlagen. In seinem Leben. Im Leben der Menschen
um ihn herum.
Die
Feinde überrannten das Land und die Stadt, in der sie lebten. Kaum
ein Stein blieb auf dem anderen, kaum ein Mensch ohne Wunde.
Nun kehrt wieder Frieden ein. Neues
Leben scheint möglich. Aber noch liegen die Trümmer herum. Und noch
ziehen und pochen die Wunden, die nur langsam vernarben.
Aus dem Schmerz steigt die Sehnsucht
auf. Die Sehnsucht nach einem, der die Schmerzen lindert und die
Wunden heilt. Der seine Barmherzigkeit wie ein warmes Leinentuch über
all das legt, was weh tut – außen und vor allem innen, tief in der
Seele.
Die Sehnsucht nach einem, der wieder
zusammen setzt und aufbaut, was zerstört wurde. Damit alles wieder
heil wird und ganz. Endlich.
Die Sehnsucht trägt einen tiefen
Schmerz in sich: Darüber, dass sie nicht erfüllt ist, dass sie
offen ist. Und sie wiederholt unablässig eine drängende Frage: Wo
bleibst du, Trost der ganzen Welt? Ich vermisse dich. Du fehlst uns.
Er scheint weit weg. Im Himmel, in
seiner heiligen, herrlichen Wohnung. Für mich und niemanden zu
erreichen.
Aber erstaunlich: Die Sehnsucht holt
ihn ganz nah heran. Als wäre er im Himmel mit den Händen zu
greifen. Als könnte ich den Horizont erreichen und ihn dort finden.
Ob Gott nur so zu haben ist: In der
Sehnsucht nach ihm? In weiter Ferne – so nah?
Vielleicht hilft auch die Erinnerung.
– Jesaja betet:
Bist
du doch unser Vater! / Denn Abraham weiß von uns nicht, / und Jakob
kennt uns nicht. / Du, Gott, bist unser Vater, / von Urzeiten her
warst du der Erlöser / für die, die dich suchten.
(Jesaja
63,16 – Jörg Zink.)
Wer
sich erinnert, erzählt Geschichten. Jesaja kann Geschichten
erzählen, die ihm erzählt wurden. Von Abraham und Jakob. Den
Urahnen seines Glaubens.
In
den Geschichten lebt ihr Glaube. Lebt das, was sie mit Gott erlebten.
Aus den Geschichten spricht das, was Gott immer noch verspricht: Der
Segen, den er auf das Leben seiner Menschen legt.
Viele
Geschichten sind es, die erzählt werden, seit Urzeiten, von
Generation zu Generation. Die Geschichten werden weiter gereicht wie
ein Erbe.
Und
sie erinnern. Sie erinnern dich und mich, dass Gott war. Im Leben
eines Menschen wie du und ich. Also kann es geschehen, wird es
geschehen, dass Gott wieder kommt. Einfach da ist in einem Leben. In
deinem Leben.
Jesaja
betet. Auch Gebete erinnern. Sie erinnern den, der betet. Du hast
Gott schon einmal vertraut. Und er hat dich gehört. Jetzt vertrau
ihm wieder.
Und
Gebete erinnern Gott: Weißt du noch? Ich bin einer deiner Menschen.
Einer, der dich braucht und deine Nähe.
Und
Gott weiß noch. Er kann das ja nicht vergessen haben. Er kann seine
Menschen ja nicht vergessen. Aber es tut gut, ihn und mich daran zu
erinnern.
Vielleicht
ist es manchmal sogar notwendig. Wenn die Sehnsucht verzweifelt.
Jesaja betet:
Komm
wieder zu deinen Knechten / und besuche dein Volk, das dir gehört. /
Fast ist es, als hättest du niemals geherrscht über uns, / als
hätten wir deinen Namen niemals getragen!
(Jesaja
63,17.19a – Jörg Zink.)
Manchmal
ist da die große Leere. Als hätte Gott sich aus der Welt
zurückgezogen: Keine Spur mehr von ihm zu entdecken.
Alles
was da ist, lässt sich logisch erklären. Oder es bleibt ein
unerklärlicher Zufall.
Alles
was mich ausmacht, bin ich selber. Ich optimiere mein Leben und
erschaffe mich selbst. Ich selbst halte alle Fäden, an denen ich
hänge, in der Hand.
Jesaja
stemmt sich dagegen. Gegen den Rückzug Gottes aus der Welt. Gegen
das Zertrampeln von Gottes Spuren in meinem Leben. Gott soll, er muss
weiter zu finden sein.
Jesaja
sucht nach dem roten Faden, den Gott in sein Leben gelegt hat. Und er
hält ihn fest, wenn er ihn hat. Er ist sein Band zu Gott.
Von
Gottes kleinem Finger läuft der rote Faden durch sein Leben. Ein
Leitfaden, der Jesaja durch sein Leben führt und durch den er immer
wieder zu Gott findet – und der zu ihm.
Der
rote Faden ist dünn. Geknüpft aus Erinnerung und aus Sehnsucht. Ein
Band zu und von Gott, der nicht selber da ist. Das ernst genommene Versprechen,
dass er dennoch da ist.
Meistens
reicht es, darauf zu vertrauen: Dass Gott da ist, auch wenn er
abwesend ist.
Aber
manchmal reicht das Vertrauen nicht. Dann verlangt die Sehnsucht nach
mehr. Dann will sie alles. Und das sofort und für immer.
Ach,
wenn du doch den Himmel zerrissest! / Ach, wenn du doch herabkämst,
/ dass die Mächte der Welt vor dir vergingen, / dass sie verglühten
wie Reisig im Feuer.
(Jesaja
63,19b;64,1a – Jörg Zink.)
Jesaja
betet: Gott soll ganz da sein. Herabkommen vom Himmel, hineinfahren
in die Welt, in das Leben.
Aber
wie wird das sein? Wenn Gott so und ohne Wenn und Aber kommt?
„Fürchte
dich nicht!“ Das sagen die Engel, wenn sie einem Menschen
gegenübertreten und seinem Leben eine andere Wendung geben.
Vielleicht ersehnt, aber immer ungeahnt.
Es
ist zum Fürchten, wenn Gott in mein Leben tritt. Ein Licht, das mich
blendet. Ein Feuer, das auf meiner Haut brennt. Ein Wind, der mich
durcheinander wirbelt. Danach ist nichts mehr, wie ich es kannte.
Aber
zugleich ist alles so, wie es sein soll. Die Kraft füllt dich aus.
Für den einen Augenblick, ganz und gar. Ein Traum eher als wirklich.
Und doch wirklicher als jeder Alltag. Leben, das überläuft. Segen,
der dich einhüllt.
Es
ist zum Fürchten, wenn der Augenblick hereinbricht. Und zum Sehnen,
wenn er wieder schwindet.
Er
stillt im Hier und Jetzt alle Sehnsucht. Und füllt danach alle Orte
und Zeiten mit Sehnsucht: Er soll wiederkommen und bleiben. Der
Augenblick, den Gott füllt – er soll ewig dauern. Jenseits von
Raum und Zeit.
Der
ewige Augenblick, in dem alles Leben in Gott fällt und Teil wird von
ihm – er wird kommen. Am Ende der Tage. Am Ziel aller Sehnsucht.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen