Wartezeit

Samuel von Hoogstraaten, Johannes erhält im Gefängnis
Christi Antwort, vor 1660 (Hamburger Kunsthalle)
Der Advent ist eine gute Zeit, das Warten zu lernen oder – falls Sie es schon gelernt haben – es alle Jahre wieder zu üben.
Der Advent macht das Warten nämlich einigermaßen leicht. Er erstreckt sich über eine überschaubare Zeit. Dieses Jahr fällt sie sogar extra kurz aus.
Diese Zeit wird zudem dank der schönen Erfindungen von Adventskranz und Adventskalender auch noch in wartefreundliche Einheiten geteilt. Das Ende des Wartens ist jederzeit absehbar. Es rückt mit jedem geöffneten Türchen, mit jeder brennenden Kerze näher.
Und dieses Ende ist ein gutes Ende. Ein Fest mit Lichterglanz und Geschenkeglück, Kinderlachen und Kindheits­erinnerungen.
Dennoch bringt das Warten im Advent Herausforderungen mit sich. Weihnachtsartikel gibt es ab Oktober, Weihnachtsmärkte beginnen vor Totensonntag, Weihnachtslieder erklingen bereits am ersten Advent.
Oft wird schon gar nicht mehr vom Advent, sondern von der Vorweihnachtszeit gesprochen. Viele – und nicht nur die ungeduldigen Kinder – würden das Warten gern abkürzen und oder gleich ganz zu überspringen. Und versuchen das Weihnachtsgefühl schon vor der Zeit herbeizuzwingen.
So ist der Advent denn nicht nur eine gute Zeit, das Warten zu lernen. Er ist auch eine notwendige Zeit, das Warten immer wieder zu üben.

Der Advent schenkt uns die Zeit zum Warten. Er schenkt die Zeit, das Warten zu lernen und zu üben, auf das ich im Leben immer mal wieder angewiesen bin.
Im Advent warte ich, dass endlich Weihnachten wird – und so warten ich in meinem Leben immer mal wieder. Darauf, dass endlich eine Festzeit anbricht, in der ich mein Glück finde und mein Leben heil und ganz wird.
Oft genug stecken Menschen im eintönigen Alltag fest, ob er sie nun mit einer Vielfalt an Aufgaben vor sich hertreibt und sein Stress ihnen keine Luft zum Atmen lässt. Oder ob er sich zäh dehnt und seine Leere sie zu schlucken droht.
Oft genug verlässt Menschen das Glück, weil sie im Zusammensein mit einem Menschen scheitern und eine Liebe zerbricht. Oder weil der Tod einem gemeinsamen Leben ein schmerzhaftes Ende setzt.
Oft genug zerfällt Menschen ihr Leben in Scherben, weil sich Pläne nicht verwirklichen lassen und Träume zerplatzen. Oder weil ihre Kräfte schwinden und sie auf fremde Hilfe angewiesen sind.
Dann warten sie, dass ihr Leben wieder heil und ganz wird, dass sie wieder feiern dürfen.

Die einen warten womöglich einfach. Sie winken ab und ergeben sich in das, wovon sie meinen, es sei ihr Schicksal. Was ist, das lässt sich nicht ändern. Was muss, das muss.
Sie warten, aber sie haben aufgehört zu hoffen – doch erst wenn sie wieder hoffen können, könnten sie auch tatsächlich warten, dass ihr Leben wieder heil und ganz wird.
Die anderen werden ungeduldig. Sie hadern mit dem, was ist, und wehren sich mit Herz und Seele gegen die Wirklichkeit ihres Lebens. Sie drängen darauf, dass alles ganz anders wird, sie wollen ihr Glück, ihr Heil herbeizwingen.
Sie hoffen, aber sie können nicht mehr warten – doch erst wenn sie wieder warten können, könnten sie auch wirklich hoffen, dass sie wieder feiern dürfen.

Die einen also warten, ohne noch hoffen zu können, und die anderen hoffen, ohne weiter warten zu wollen.
Johannes der Täufer kennt und erlebt beides. Erst hofft er ungeduldig, dann wartet er hoffnungslos.
Der ungeduldige Johannes, das ist der Mann, der die Menschen ändern will, damit sich die Welt ändern kann. Er fordert sie heraus, sich von ihrem alten Leben zu verabschieden.
Er tauft sie mit Wasser, damit sie den Schmutz von ihrem alten Ich abwaschen und in neuem Glanz dastehen. Er ruft sie auf, ein neues Leben zu leben – ein Leben, das Gott gefällt.
So kann dann das Heil kommen, so kann ihr Leben, so kann die Welt heil werden, weil dann Gott einzieht – in ihr Leben, in die Welt.
Und wenn es nach Johannes Hoffnung geht, dann soll das eher heute als morgen geschehen. Warten mag er nicht, nicht mehr.
Doch es geht nicht nach Johannes, sondern nach Herodes – und der wirft ihn ins Gefängnis. Dort muss Johannes warten. Und er wartet. Doch langsam schleicht die Hoffnung davon, dass das Heil wirklich zum Greifen nahe ist.
So schickt er seine Jünger, das Heil zu suchen, auf das er wartet, und ihm die Hoffnung zurück zu bringen.

Johannes der Täufer saß im Gefängnis.
Dort hörte er von den Taten des Christus.
Deshalb schickte er seine Jünger zu Jesus
und ließ ihn fragen:
»Bist du der,
der kommen soll,
oder sollen wir auf einen anderen warten?«
Jesus antwortete ihnen:
»Geht und berichtet Johannes,
was ihr hört und seht:
Blinde sehen
und Lahme gehen.
Menschen mit Aussatz werden rein,
Taube hören,
Tote werden zum Leben erweckt
und Armen wird die Gute Nachricht verkündet.
Selig ist,
wer sich nicht an mir ärgert.«
(Matthäus 11,2-6 -- www.basisbibel.de)

Jesus sagte das und die Jünger von Johannes machten sich auf den Weg zurück zu Johannes. Sie besuchten ihn im Gefängnis und erzählten ihm, was sie gesehen haben.
Ich stelle mir vor, wie Johannes Augen aufleuchten und sein Herz vor Glück gegen die Brust schlägt. Das Heil ist zum Greifen nah, das Heil ist da.
Was seine Jünger sehen und erzählen, das erinnert Johannes an alte Worte des Propheten Jesaja: „Gott kommt und wird euch helfen“, hatte er den Menschen seiner Zeit gesagt. „Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet. Dann werden die Lahmen springen wie ein Hirsch und die Zunge der Stummen wird frohlocken.“
Jetzt also ist es so weit. Gott ist da. Niemand muss mehr auf einen anderen warten. Jesus ist es, der kommen soll und Gott mit sich bringt.

Johannes kann also wieder hoffen. Vielleicht gelingt es ihm auch wieder zu warten. Das muss er auch.
Das Heil ist da – aber das ändert nichts an seiner Lage. Er bleibt im Gefängnis, er ist Gefangener des Herodes. Schlimmer noch: Der lässt ihn bald darauf töten.
Doch die Hoffnung wird weiter sein als der Schrecken des Todes. Gott kommt in die Welt und bringt ihr sein Heil.
Also überwindet er auch die Grenzen, die der Tod setzt. Sie verlieren für Johannes und alle Menschen jede bindende Geltung. Gott kommt und macht frei.
Um hoffen und warten zu können, muss Johannes allerdings glauben. Er muss auf das vertrauen, was nicht er sieht, sondern seine Jünger. Er muss seine Zuversicht auf das setzen, was sie ihm erzählen.

Das verbindet uns mit Johannes: Wir können unsere Zuversicht allein auf das setzen, was andere uns erzählen. Wir müssen auf das vertrauen, was wir nicht sehen. Wir erfahren das Heil allein im Glauben.
Selig ist, wer sich daran nicht ärgert. Uns geht es wie Johannes: Die äußere Wirklichkeit des Lebens ändert sich durch den Glauben so wenig wie der Glaube Johannes aus dem Gefängnis befreit.
Der Glaube füllt den Alltag nicht von selbst mit spannenden Erlebnissen aus oder erledigt den Stapel Arbeit, der sich auftürmt.
Der Glaube hilft nicht immer, eine Beziehung vor dem Zerbrechen zu retten; er hebt nicht den Tod auf, der Menschen voneinander scheidet.
Der Glaube sorgt nicht dafür, dass sich alle Pläne umsetzen lassen und Träume erfüllen. Der Glaube verleiht dem Körper nicht jugendliche Kräfte, wenn sie im Alter schwinden.
Selig ist, wer sich daran nicht ärgert. Und der dennoch daran festhält: „Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium gepredigt.“
Der Glaube ändert nicht die äußere Wirklichkeit. Aber er ändert die innere Sicht auf das Leben. Das kann der Glaube.
Er kann mir die Augen öffnen für einen Menschen, der mir ganz selbstverständlich seine Hilfe dort anbietet, wo ich allein nicht zurecht komme.
Er kann dir auf die Beine helfen, damit du einen neuen Weg findest, wo du mit deinen Plänen und Träumen in eine Sackgasse geraten bist.
Er kann uns helfen, reinen Tisch zu machen mit Menschen, mit denen wir uns zerstritten haben. So können wir alte, durch Streit zerschlissene Bande neu knüpfen.
Er kann mir die Ohren öffnen, damit ich höre, wie ein anderer freundlich mit mir spricht, wenn ich untröstlich sind.
Er kann dir gegen die Angst vor Tod und Sterben Mut machen, weil auch dein Leben aus Gott kommt und in seiner Hand geborgen ist.
Er kann uns zuversichtlich machen, dass Gott kommt – dass er zu allen kommt. Zu dir, zu mir, zu jedem einzelnen.
So kann uns der Glaube helfen, zu warten und zu hoffen: In meinem Leben wird eine Festzeit anbrechen. Du wirst dein Glück finden. Unser Leben wird heil und ganz.

Da ist es gut, dass wir den Advent haben, dass wir wieder Advent haben: Damit wir das Warten lernen und wieder üben.
Gerade darum geht es ja im Advent: Er ist eine Wartezeit auf das Heil, das Gott in die Welt bringt. 

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