Schwarzseher und Sternsucher

Zwei Menschen mit Fernrohren an einem dunklen Abend in der Föhrer Marsch.

Siehst du was?
Nee. Alles schwarz.
Bei mir auch.
Schwarzseher.
Was?
So sagen sie zu uns: Schwarzseher.
Ach?
Ja. Schwarzseher. Da kommt einer von den Schwarzsehern. Habe ich gestern erst gehört. Die Meier hat das dem Müller zugeflüstert, als ich in den Laden kam.
Schwarzseher. Warum Schwarzseher?
Naja, liegt irgendwie nahe: Wir schauen ja ins Schwarze, jeden Abend.
Nur weil die aufgegeben haben und wir noch nicht. Ich finde eher, die sind die Schwarzseher.
Mir brauchst du das nicht zu sagen.
Wir sind doch die einzigen, die immer noch Ausschau halten.
Ja, ich weiß.
Die einzigen, die sich nicht damit abfinden wollen, dass die Sterne einfach vom Himmel verschwunden sind.
Naja, ich kann sie ja verstehen. Irgendwann muss der Alltag ja auch...
Alltag, wenn ich das schon höre. Was ist das für ein Alltag. Ohne Sterne.
Ja, ich weiß.
Man kann doch das Dunkel nicht einfach so hinnehmen. Man muss doch...
weiterleben, sagen die anderen. Man kann doch nicht die ganze Nacht da sitzen und in den dunklen Himmel schauen. Sagt die Meier.
Schwarzseher“. Das ärgert mich. Schwarzseher bin ich erst, wenn ich das Fernglas aus der Hand lege und nicht mehr den Himmel absuche.
Das sehe ich ja genauso. Aber ich kann die anderen verstehen. Es ist doch auch anstrengend. Jede Nacht. Und nur schwarz. So weit du schaust.
Willst du aufgeben?
Das habe ich nicht gesagt. Ich habe nur gesagt, dass es anstrengend ist, ständig ins Dunkle zu schauen.
Ich sage dir: Ein Leben ohne Sterne, das ist anstrengend. Dann wirst du wie der Müller. Sein Blick ist schon genauso dunkel wie die Nacht.
Ja. Und die Meier mit ihrem zusammengekniffenen Mund und der ständig düsteren Laune.
Weil sie aufgegeben haben. Sie haben die Sterne aufgegeben. Sie haben sich selber aufgegeben.
Wir dürfen nicht aufgeben. Das sind wir uns schuldig. Und ihnen auch.
Einer muss doch nach den Sternen suchen.
So sollten sie uns nennen: Die Sternsucher.
Das waren sie ja selber auch mal.
Am Anfang, als die Sterne gerade erst verschwunden waren. Weißt du noch, wie viele wir hier draußen waren und in den dunklen Himmel geschaut haben?
Fast so viele wie vorher Sterne am Himmel waren.
Und jeden Abend war da einer, der laut rief: „Ein Stern. Ich sehe einen Stern.“
Und wir haben alle gesucht. Und dann hatte er sich doch getäuscht. Und der Himmel blieb dunkel.
So wurden es immer weniger, die kamen, um nach den Sternen zu suchen. Und irgendwann waren wir die letzten.
Weißt du, dass ich manchmal von den Sternen träume? Ich sehe mich dann hier draußen liegen und über mir wölbt sich ein Himmel, der nur so glitzert.
Ich träume auch. Ich sehe im Traum immer einen Stern, der heller leuchtet als alle anderen. Und dann wache ich auf und greife mir mein Fernglas und gehe hinaus, um nach dem Stern zu suchen.
Und du suchst den Himmel ab und er bleibt dunkel.
Und dann frisst sich die Enttäuschung ein wenig tiefer in dich hinein.
Aber der Traum von den Sternen kommt immer wieder.
Und die Sehnsucht, dass er wahr wird.
Ja. Und eines Nachts wird es so sein. Der Traum wird wahr.
Ich habe mich schon oft gefragt: Wie wird es sein, wenn es so weit sein wird?
Erst einmal werden wir ein großes Fest feiern. Ein Lichterfest. Weil der Sternenglanz in die Welt zurückkehrt.
Ich stelle mir oft vor, dass ich dann aufbreche. Irgendwohin.
Immer den Sternen nach?
Immer dem Stern nach. Und schauen, wo er mich hinführt.
Und wenn's ans Ende der Welt ist?
Dann folge ich ihm bis ans Ende der Welt.
Und was findest du dann dort, beim Stern, am Ende der Welt?
So wie der Stern in meinen Träumen blinkt und strahlt, kann es nur etwas ganz Wunderbares sein.
Ach, wenn es doch schon so weit wäre. Und wir säßen hier unter dem glitzernden Himmel.
Und wir sähen den einen hellen Stern.
Siehst du ihn?
Nein.
Ich auch nicht. Schade.
Komm. Wir schließen die Augen.
Und dann?
Ich sehe was.
Einen Stern, Balthasar?
Ja, Kaspar. Du nicht?

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