Rosentraum - Zur Christnacht I

Sie hatte von Rosen geträumt und war aufgewacht davon. Rosen in allen Farben hatte sie gesehen. Sie schwebten vom Himmel, verfingen sich in Bäumen und Sträuchern, fielen auf Autos, die vorüberfuhren, blieben auf dem Weg liegen.
Sie stand auf. Der Tag lag vor ihr wie ein weißes Blatt Papier. Sie konnte es füllen, womit sie wollte. Mit einem Spaziergang vor dem Frühstück, zum Beispiel.
Sie zog sich an und trat vor die Tür. Klar war die Luft und frisch. Sie zögerte, in welche Richtung sie gehen sollte. Sie blickte die Straße links hoch und rechts runter.
Da entdeckte sie eine Rose. Ein paar Schritte entfernt lag sie auf dem Gehweg. Gelb leuchtete der Kopf. Sie lächelte: Träume...
Sie ging hin und hob die Rose auf. Wie mochte sie dorthin gekommen sein? Bestimmt hatte sie jemand gerade erst verloren.
Sie schaute sich um. Kein Mensch war zu sehen, aber da war doch noch eine Rose. Eine rote war es dieses Mal, sie hing in den Maschen eines Gartenzauns.
Sie nahm sie vorsichtig aus dem Zaun. Jemand musste sie hineingesteckt haben. Aber wer? Und wozu?
Sie blickte die Straße hinauf und sah keinen einzigen Menschen. Dafür aber entdeckte sie die dritte Rose. Eine weiße, sie war auf den Gepäckträger eines abgestellten Fahrrades geklemmt.
Sie war verwirrt. Sollte ihr Traum etwa? Das konnte ja nicht sein. Sie blickte umher. Tatsächlich, da war noch eine Rose.
Eine Rose nach der anderen fand sie. Mal lag sie auf dem Gehweg, mal war sie hinter den Scheibenwischer eines Autos geklemmt.
Mit jeder Rose entfernte sie sich weiter von zuhause. Aber mit jeder Rose würde sie auch dem Ziel näher kommen. Sie war sich sicher: Jemand hatte die Rosen als Wegzeichen ausgelegt.
Vielleicht hatte er das sogar genau und nur für sie getan. Sie hatte doch geträumt von den Rosen, die vom Himmel schwebten.
Sie hob gerade wieder eine Rose vom Gehweg auf. Es war die dreiundzwanzigste. Sie hatte genau mitgezählt.
Sie schaute sich um. Sie hatte die nächste Rose bislang immer schnell gefunden, auf oder neben dem Gehweg.
Jetzt musste sie länger suchen, bis sie die Rose entdeckte. Sie klemmte an der Tür eines Hauses. Sie zögerte. War hier das Ziel? Sollte sie hingehen?
Sie öffnete die Pforte vor ihr, ging durch einen verwachsenen Vorgarten bis zur Tür. Sie suchte vergeblich nach einem Namen auf dem Klingelschild oder dem Briefkasten.
Das Haus sah verlassen aus. Kein Licht, keine Vorhänge. Aber jemand wohnte dort. Durch das Fenster neben der Tür sah sie einen gedeckten Tisch.
Sie griff nach der Rose, da ging die Tür auf. Sie zuckte zusammen und schloss für einen Augenblick die Augen. Wenn sie immer noch träumte?
Sie öffnete die Augen. Da stand vor ihr eine junge Frau und lächelte sie an. Auf dem Arm hielt sie einen Säugling.

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